Und morgen seid ihr tot
liebsten erschossen. Und tatsächlich würde Dumbo seine Strafe bekommen. Wenn auch auf andere Art als gedacht.
Die Zeit vergeht wieder quälend langsam. Wenn wir wenigstens die Gewissheit hätten, dass die Zeit uns einem Ziel näher bringt! Vielleicht rückt es, ohne dass wir etwas davon erfahren, immer weiter von uns ab.
Heute, mit einem gewissen Abstand, kann ich mir vorstellen, wie kompliziert und langwierig sich die Verhandlungen im Hintergrund gestalteten. Einhundert Gefangene. X Millionen Dollar. In unserem Innenhof, angesichts unserer nahezu vollkommenen Beschäftigungslosigkeit, erschien die Langsamkeit der Prozesse unbegreiflich.
Immer vager werden die Zeitangaben unserer Bewacher, auch die von Nase, immer seltener lassen sich Nase und vor allem Hans überhaupt blicken. Wir erwarten nicht mehr jeden Tag, dass vor dem Tor ein Wagen hält, um uns abzuholen, die Begriffe, die wir hin und her wälzen, werden unbestimmter, gewaltiger, erschreckender. Vielleicht wird es noch drei Monate dauern, ein halbes Jahr, ein Jahr? David und ich wechseln immer wieder unsere Rollen. Wenn der eine droht, die Hoffnung aufzugeben und in Pessimismus zu versinken, findet der andere überzeugende Argumente, warum es nicht mehr allzu lange dauern kann. Aber insgeheim spüren wir, dass der Optimismus des anderen gespielt ist. Die Dunstglocke, die sich über meinen Kopf gebreitet hat, der Druck, der sich nur manchmal durch die körperliche Erschöpfung nach dem Laufen aufheben lässt, schiebt sich auch zwischen David und mich. Wir berühren einander, geben einander Halt, sprechen und singen miteinander, aber es ist, als wären wir uns nie ganz nah. Der Panzer, den sich jeder von uns zugelegt hat, um nicht in totaler Verzweiflung zu versinken, schiebt sich auch zwischen uns.
Die Bewacher verschwinden immer wieder einmal für ein paar Tage oder Wochen, aber wenn sie zurückkommen, zumal Guildo Horn, verfallen auch sie in Trübsinn. Manchmal liegen wir mit ihnen stundenlang auf dem Bauch und sehen zu, wie eine Ameisenkolonie eine Fliege zerlegt und in Einzelteilen abtransportiert. Manchmal gerät einer von ihnen schon nach dem Morgengebet in Aktionismus und fängt an, den Müll zu beseitigen oder ein Zimmer aufzuräumen. Aber nach einer halben Stunde liegt er dann wie erschlagen auf seinem Lager und ist nicht mehr ansprechbar.
Eines Morgens klopft es am Tor. Es ist erst acht Uhr, eine höchst ungewöhnliche Zeit für Besuch. Draußen steht Nases Assistent, der mit Depp verschwindet. Als dieser Stunden später zurückkehrt, sagt er fröhlich, er werde uns jetzt verlassen.
»Wohin?«, fragen wir auf Paschtu.
»An die Front«, ist seine Antwort, »ich werde kämpfen, vielleicht als Märtyrer sterben.«
Er umarmt David, gibt mir die Hand. Er schnallt sein Gewehr auf den Rücken, vermummt sein Gesicht und lässt noch einmal seinen Blick durch den engen Innenhof schweifen. Er hat unsere Nerven strapaziert mit seiner Ungeschicklichkeit, er hat uns provoziert mit despektierlichen Spitznamen und mit Todesdrohungen, er hat um unsere Aufmerksamkeit, ja um Anerkennung gebuhlt, wenn er, ohne ein Wort zu verstehen, in grotesker Aussprache englische Zeitungsartikel rezitiert hat. Aber er ist in den zwei Monaten zugänglicher geworden, hat sich auf seine Art sogar Mühe gegeben, die Einkäufe auf dem Basar für uns zu erledigen. Zwanzig Jahre ist er alt. Und vielleicht ist sein Leben jetzt vorbei. Welchen Sinn hatte es?
Obwohl es nicht mehr unerträglich heiß ist, schlafen wir schlecht. Die harten Riemen des Bettgestells schneiden die Durchblutung ab, und David hat immer größere Probleme mit seinem linken Bein. Es schwillt an, die Blutgefäße schmerzen, und da er mich jedes Mal, wenn er sich im Bett drehen will, wecken muss, ahmt er die Stimme eines alten Mannes nach und jammert: »Oh, mein Thrombosenbein, es schmerzt, Daniela, ich glaube, ich verliere das Bein. Es sei denn, ich kann mich noch einmal umdrehen.« Hin und wieder nehmen wir ein Despirin (wie Aspirin in den FATA heißt) oder ein Paracetamol, und dann lüftet sich ein wenig der Schleier über unserem Bewusstsein, und die Schmerzen im Körper lassen nach.
Hinter dem kleinen Block aus Waschraum, WC und Zisterne verläuft der enge, überdachte Gang, der zum Eisentor führt und den wir »Tunnel« nennen. Durch diesen Tunnel kommt jeder Besuch, jede Neuigkeit in unseren Innenhof. So auch am Morgen des 24. September. Wir haben unser Sportprogramm bereits absolviert und geduscht,
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