Und morgen seid ihr tot
ich stehe auf dem einzigen Fleck, auf den zu dieser Jahreszeit noch die Sonne fällt, den Kopf in den Nacken gelegt. Ich stelle mir vor, auf der Terrasse meiner Eltern zu sein, den Ruf eines Bussards zu hören, als ich schnelle Schritte höre. Ich öffne die Augen einen Spalt, sehe die hohe Mauer, bin wieder angekommen in unserem Albtraum. Locke rennt mit einer Eisenstange an mir vorbei, verschwindet im Tunnel und schlägt um sich. Gegen welchen Aggressor kämpft der besonnene Locke? Aus dem Tunnel kommt ein Kätzchen in den Hof geschossen, Locke hinterher. Das Tier versteckt sich hinter einem Mauerabsatz, Locke schleicht mit seiner Eisenstange umher, und als das Kätzchen aus seinem Versteck hüpft und unter Locke vorbeiwischt, fällt dieser vor Schreck fast um.
Aus dem Tunnel kommt jedoch weiterhin Katzenjammer. Ich verhülle mein Gesicht und schaue nach. Ein mageres Junges mit von Eiter verklebten Augen sitzt am Eisentor. Da ich Lockes Angst vor Katzen teile, rufe ich David. Dieser trägt das Tier in den Waschraum, reinigt ihm die Augen und bettet es in sein T-Shirt. Dann rühren wir das Milchpulver, das manchmal in den Tee gemischt wird, an, basteln aus einer Cremetube ein Babyfläschchen und füttern das Kätzchen. Leider hat es Flöhe, und seit der Entführung habe ich panische Angst vor Läusen und Flöhen. Nach und nach werden wir die beiden Babys waschen und von Ungeziefer befreien (David wird es tun, während ich ihn mit Bewunderung beobachte). Die Mutter ist dagegen sehr scheu und wagt sich erst nach langem Zaudern in unsere Nähe. Wir haben nun drei Spielkameraden und Leidensgenossen, denn die Taliban hassen Katzen. Sie äßen alles weg und trügen Ungeziefer in den Hof, meinen sie.
Locke gibt uns schließlich offiziell die Erlaubnis, die Katzen mit in Milch eingeweichtem altem Fladenbrot zu füttern. Inzwischen sind es drei Jungtiere und die Mutter. Ich assistiere David, indem ich das Brot vorbereite, die Milch anrühre und die umfunktionierte Cremetube für die »Zwangsernährung« präpariere. Wir haben jetzt neben unserem Sportprogramm eine Aufgabe, die unserem Tag einen gewissen Rhythmus gibt.
Dazwischen verfalle ich jedoch immer wieder in einen Lähmungszustand. Oft liege ich stundenlang reglos auf dem Bett, und meine Gedanken werden immer trüber. Ich habe Angst vor Malaria, davor, dass man mir David wegnimmt. Das Thema Selbstmord schleicht sich in meine Überlegungen. Nicht dass ich Selbstmord für mich in Betracht ziehen würde, ich will leben, ich will noch einmal etwas anderes sehen als diese fünfundzwanzig Quadratmeter Innenhof mit seinen grauen Mauern, aber schon die Tatsache, dass ich an den Selbstmord anderer Menschen denke, erschreckt mich.
Nilpe, Nases Assistent, hat Depps Stelle eingenommen. Nun ist er für unsere Versorgung und die Gänge auf den Basar zuständig. Wir können inzwischen gut genug Paschtu, um zu verstehen, was er uns sagt und was er den anderen Jailern erzählt. Er ignoriert unsere Bestellungen absichtlich und behauptet dann uns gegenüber, der Laden sei schon geschlossen gewesen, die Zeitungen seien ausverkauft usw. Er ist ein eitler Geck, der sich ständig im Spiegel betrachtet, sich in jedes Gespräch einmischt. Ohne zu fragen, bedient er sich von unseren Wattestäbchen, von unserer Nivea-Creme, die einen wahren Schatz darstellt, und wenn wir schlafen wollen, sitzt er mit seinem Nokia-Handy (das keinen Empfang hat) neben uns und lässt Klingeltöne spielen, bis der Akku leer ist.
Wir wissen nicht, ob er nur unsere Aufmerksamkeit erregen oder uns bewusst malträtieren will. Aber auf den wenigen Quadratmetern, wo man jede Regung des anderen registriert, werden solche Spannungen zur Tortur.
Die Hoffnung, dass Depp bald zurückkehren könnte, rückt auch in weite Ferne. Kaum an der Front angekommen, wurde er beim Versuch, eine Landmine zu vergraben, vom pakistanischen Militär angeschossen. Nun liegt er im Krankenhaus. Nilpe erzählt dies ohne große Gefühlsregung. Die meisten Jailer haben an der Front gekämpft, sind von Projektilen oder Granatsplittern versehrt.
Diese Generation der Taliban kennt buchstäblich nichts anderes als Krieg. Der Älteste, Locke, wurde 1981 geboren, die anderen wenige Jahre später. Die meisten stammen von Flüchtlingen aus Afghanistan ab, sind in den Flüchtlingslagern auf pakistanischem Territorium aufgewachsen. Seit 1979, seit der Invasion durch die Sowjetarmee, sind afghanische Paschtunen zu Tausenden in die Grenzprovinzen nach
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