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Und morgen seid ihr tot

Und morgen seid ihr tot

Titel: Und morgen seid ihr tot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Widmer; David Och
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außerdem silbernen und schwarzen Lidschatten. Er ist perplex, als er Davids nackten Oberkörper aus der Zisterne ragen sieht, mich daneben. Locke bringt mir schnell das Kopftuch und das lange Hemd, das ich über das T-Shirt ziehe. Nach einem kurzen Gruß geht Nase essen und seine Siesta halten, während wir mit dem Bodensatz in der Zisterne kämpfen. Der Abfluss ist verstopft, und David versucht, den Pfropfen herauszuschlagen.
    Nase scheint sich besonders fein gemacht zu haben, die Uhrzeit seines Auftritts ist ungewöhnlich. Unsere Frage ist die immer gleiche: Ist er gekommen, um uns gute Nachrichten zu bringen? Aber warum gibt er uns dann nicht wenigstens ein Zeichen? Er weiß doch, wie es in uns aussieht. Locke steigt zu David in die Zisterne, und gemeinsam versuchen sie zwei Stunden lang, den Holzpfropfen aus der Abflussröhre zu schlagen. David taucht immer wieder hinunter, durchbohrt den Pfropfen, bis auch der Boden der Zisterne abtrocknet.
    Als wir Nase bei einem späteren Besuch das Zeitungsbild eines U-Boots zeigen und erklären werden, dass es tauchen und sogar Menschen transportieren könne, wird Nase David anblicken und sagen: »Das müssen alles Leute sein wie du, die sehr lange den Atem anhalten können.«
    Wir steigen aus der Zisterne, aus der Aare zurück in »unseren« Innenhof. Hoch über unseren Köpfen der rechteckige Ausschnitt des Himmels, eine Drohne, dann noch eine. Vom Basar hallt eine Explosion herüber, eine einzelne MG -Salve. Wir sind wieder in unserer Wirklichkeit und blicken einander hilflos an. Wann endlich wird Nazarjan mit uns reden?
    Wir wissen, wir können so nicht weitermachen. David bittet Nase um ein Gespräch unter vier Augen. Wir können die Orientierungslosigkeit nicht mehr ertragen. Lieber wollen wir hören, dass es noch einen Monat dauert, oder noch zwei, als in dieser ungestalten Masse von Zeit dahinzuvegetieren. Wir brauchen eine Perspektive, ein Ziel. Das mag für einen Orientalen bizarr sein, für uns ist es lebensnotwendig. Nase scheint den Ernst der Lage begriffen zu haben, denn er fordert David auf, mich zu holen. Wir setzen uns in den Schneidersitz, Nilpe serviert Tee und hört konzentriert zu, aber Nase schickt ihn, zu unserer Genugtuung, nach draußen. Wir gestikulieren, radebrechen Paschtu, nehmen Zeitungsbilder zu Hilfe, fertigen Zeichnungen an und machen ihm klar, dass wir am Ende sind. Er sieht selbst, dass wir die Tränen nicht zurückhalten können, und in seinen geschminkten, hellwachen Augen blitzt Mitgefühl auf. Er hält Davids Hand, berührt mich, gegen alle Konventionen des Islam, am Knie und fängt dann an, die aktuelle Situation zu erläutern. Die Schweiz habe eine fünfköpfige Verhandlungsgruppe in Islamabad gebildet, die Taliban hätten einen Mudschahed entsandt. Der Armeeoffizier, der für Pakistan die Verhandlungen führen solle, habe sein Kommen kurzfristig abgesagt, weil sich der Konflikt mit dem Haqqani-Netzwerk zugespitzt habe. Sonst hätte man am Vortag bereits eine Lösung zum Gefangenenaustausch finden können.
    Jahrelang hat Pakistan das mit den Taliban und Al-Qaida kooperierende Haqqani-Netzwerk ignoriert, ja sogar heimlich unterstützt. Und nun nutzt Pakistan dieses Terror-Netzwerk als Ausrede, um wieder einmal eine Verständigung zu blockieren, denke ich. Meine ganze Wut richtet sich gegen dieses Land, das alle Seiten gegeneinander auszuspielen scheint. Man munkelt, der pakistanische Nachrichtendienst ISI lasse sich von den Amerikanern finanzieren, unterstütze aber nach wie vor die Taliban, um heimlich die Kontrolle über Afghanistan zu übernehmen. Pakistan, ein Land, das nicht einmal ein Minimum an Kontrolle über seine eigenen Territorien gewinnt, das die sieben Provinzen FATA nennt, »Federally Administered Tribal Areas«, Stammesgebiete unter Bundesverwaltung, aber in Wahrheit einen blinden Fleck auf der Landkarte geschaffen hat, ohne Infrastruktur, ohne Schulen, ohne Gesundheitsversorgung, ja sogar ohne Gerichtsbarkeit, einen blinden Fleck, auf den die Amerikaner ohne völkerrechtliche Grundlage ein Zielschießen veranstalten. Und wir sitzen mittendrin.
    Es könne noch einen Monat dauern, oder auch zwei oder drei, sagt Nase. Am Anfang hieß es: drei Tage. Ich spüre, wie auch der letzte Rest an Energie aus mir entweicht. Das also ist die Wahrheit, die ich unbedingt hatte hören wollen. Das ist unsere Perspektive, auf die wir unsere Willenskraft auszurichten haben. Wie viele Male hatte ich gedacht, ich sei am Tiefpunkt?

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