Und Nachts die Angst
Reggie LeClaires gegenwärtige Telefonnummer, die er dank Tillys SMS gespeichert hat, auf ein gesondertes DIN-A4-Blatt.
Er steckt die Blätter in einen selbstklebenden Express-Umschlag – ohne Speichelspuren, die man zurückverfolgen könnte, vielen Dank auch – und adressiert ihn an Daryl Wayne Flint, Häftling Nr. 44610906FP, c/o Olshaker Medical Hospital, Forensische Psychiatrie, South Turvey, Washington.
44. Kapitel
Samstag
D er verstorbene Buster Ewing wäre über den Zustand des Unternehmens, das er seinem einzigen Kind hinterlassen hat, vermutlich entsetzt gewesen. Er war in dem Glauben aus der Welt geschieden, dass Emily ein aufstrebendes Maklergeschäft erbte, doch die Jahre hatten an Buster Ewing Realty genagt. Ewings Zeitgenossen waren einer nach dem anderen in Rente gegangen oder gestorben, die vielversprechenden neuen Angestellten, die Buster noch selbst eingearbeitet hatte, längst abgewandert, um sich lukrativere Jobs zu suchen.
Emily Ewing war seit Jahren gezwungen, sich immer weiter zu verkleinern.
Erst im vergangenen Monat hat ihr Lieblingsmitarbeiter, Skeeter, aufgegeben und ist nach Oregon gezogen. Und jetzt gehen die Geschäfte so träge, dass Emily nur noch eine Angestellte bezahlen kann – eine burschikose junge Frau namens Nicole, die das Büro an den Wochenenden aufmacht.
Aber Emily Ewings Stärke ist ihr hartnäckiger Optimismus. An diesem verregneten Samstagmorgen rauscht sie ins Büro mit einem Lächeln, das jedem Wetter trotzt. »Guten Morgen, Nicole. Wenn du wüsstest, was heute auf dem Programm steht«, trällert sie, als sei dieser erbärmlich graue Tag voll ungeahnter Möglichkeiten.
Nicole weiß, was sie an ihrer unerschütterlich gutgelaunten Chefin hat, und arbeitet gerne für sie. Sie geht zu den Branchentreffen, verfasst die Anzeigen und betreibt Kundenpflege. Sie ist jung genug, dass sie der Meinung ist, das Leben würde immer besser werden, beginnt aber langsam zu spüren, dass sie noch viel zu lernen hat.
»Lass mich raten«, sagt Nicole. »Wir haben heute einen offenen Besichtigungstermin.«
»Ja! Für das Baker-Haus!«, jubelt Emily, als sie ihren Regenmantel aufhängt. »Oh, ich liebe dieses Haus. Der Teich mit den Koi. Die Küche. Und diese wunderschönen Böden!«
»Ja, aber ich habe doch erst vor zwei Wochen einen solchen Termin abgehalten. Und es war praktisch kein Mensch da!«
»Das weiß ich ja. Aber wir haben im Augenblick einfach schwierige Zeiten – Weihnachten, all die kommenden Feiertage, du weißt schon. Warte ab, nach dem Super Bowl wird es wieder lebhafter.«
»Aber warum dann jetzt so einen Termin ansetzen?«
Sie seufzt und blickt hinaus in den tristen Tag. »Weil ich’s den Bakers versprochen habe.« Ihr Lächeln verhärtet sich. »Im Übrigen hast du dann den Laden hier für dich. Vielleicht kommt ausgerechnet heute ein wichtiger Kunde rein. Und glaub mir: Jeder, der bei diesem Wetter freiwillig vor die Tür geht, hat ernste Absichten!«
Zwei Stunden später stellt Emily im Regen die »Zu verkaufen«-Schilder auf. Ihre hohen Absätze sind unpraktisch, und der Lexus ist nicht wirklich für den Transport sperriger Aufsteller geeignet, aber sie hat so viel Übung darin, sie aus beengten Koffer- und Fußräumen zu hieven und an strategisch günstigen Stellen zu befestigen, dass Schuh- und Automodell keine Rolle spielen.
Die Schilder sind schwer und solide und widerstehen auch rauher Witterung, und auf jedem sieht man ein schmeichelhaftes Abbild von ihr aus glücklicheren Zeiten. Trotz der Kälte ist sie erhitzt, als sie schließlich die steile Auffahrt hinauffährt und vor der Garage mit Platz für drei Autos parkt.
Sie schließt die Tür auf, macht sich frisch, reinigt das Bad, stellt frische Blumen in eine Vase, poliert die Küchenarmaturen, schiebt ein Blech mit Plätzchen in den Ofen, arrangiert den Stapel Visitenkarten neben den neuen Vierfarbbroschüren und wartet. Dies ist der sechste Termin hier, den von Nicole nicht mitgerechnet. Wenn vor Jahresende nichts passiert, wird sie den Bakers nahelegen müssen, noch ein wenig mit dem Preis runterzugehen, aber es ist riskant. Schon jetzt wird das Haus unter Wert angeboten, und sie befürchtet, die Bakers könnten sich einen anderen Makler suchen.
Noch während sie darüber grübelt, hört sie eine Autotür knallen, dann zwei weitere. Sie nimmt die Abdeckung von der Schüssel mit den frisch gebackenen Keksen, setzt ein Lächeln auf und macht sich bereit, die missmutig hereinkommende
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