Und nehmen was kommt
Amsterdam eingeladen. Reiner Urlaub, Ehrenwort, kein Sex, alle Kosten werden übernommen. Es wäre das erste Mal, daß Monika mit ihren zweiundzwanzig Jahren über die Grenzen der Slowakei und der Tschechischen Republik hinauskäme, es fehlt ihr nur noch ein gültiges, EU-taugliches Reisedokument. Warum sagst du nicht, dir ist der alte gestohlen worden, und beantragst schlicht und einfach einen neuen? meint Vera spontan, als ihr die Freundin vom echten Paß in Františeks Händen erzählt und vom falschen, für diesen Zweck ohnehin nutzlosen, den Joe verwaltet.
So überrascht, wie sie tut, ist Monika von diesem Vorschlag allerdings nicht. Ihre Schwellenangst, ein Amt zu betreten, ist fast so groß und irrational wie jene vor einem bürgerlichen Leben an Georgs Seite. Oft schon hat sie mit dem Gedanken gespielt, sich einen neuen Paß ausstellen zu lassen, nur hat sie nie den Mut aufgebracht, konkrete Schritte zu unternehmen. Dabei verläuft alles ohne die geringsten Schwierigkeiten. Immer noch ist sie an jenem Ort offiziell gemeldet, wo ihr letztes Kinderheim steht. Sie hat befürchtet, Dokumente vorlegen zu müssen, die ihre Identität bestätigen, denn sie besitzt weder eine Geburtsurkunde noch einen amtlichen Lichtbildausweis, etwa eine ID -Karte oder einen Führerschein. Aber die freundliche, unaufgeregte Dame hinter dem Schalter begnügt sich damit, Monikas persönliche Daten aufzunehmen, Fotos solle sie bei Gelegenheit bitte noch vorbeibringen. Inzwischen werde man einmal Rücksprache mit der zuständigen Heimatgemeinde halten. Sie nennt eine überschaubare Frist, bis dahin dürfte wohl klar sein, ob alles den gewohnten Gang nehme oder ein komplizierteres Verfahren gewählt werden müsse. Einen schönen Tag noch. Als Monika wieder auf der Straße steht, ist sie immer noch ganz verdattert: Die hat überhaupt nicht gebissen.
Was bin ich nur für ein elender Waschlappen geworden, sagt sie sich, und statt sich zu freuen, daß alles glatt zu gehen scheint, ärgert sie sich maßlos über ihre Feigheit, ihre mangelnde Reife, ihre Lebensuntüchtigkeit. Sie wendet ihre Wut über die Ausweglosigkeit, in die sie sich sehenden Auges ein weiteres Mal begeben hat, indem sie Joes Beteuerungen auf den Leim ging, zunächst erneut gegen sich selbst, je kaputter sie wird, und das geht jetzt sehr schnell, mehr und mehr auch gegen andere. Wenn sie schwer betrunken ist, und sie ist jede Nacht schwer betrunken, sucht sie Streit, meist in Diskotheken, in irgendwelchen anderen Lokalitäten, selbst mitten auf der Straße. Sie flucht wie ein Kutscher, beschimpft Unbeteiligte, scheut sich auch nicht vor Handgreiflichkeiten, und Vera muß ihr immer wieder gut zureden, damit sie nicht gleich zuschlägt, wenn ihr eine Visage nicht in den Kram paßt.
Wieder erwischt sie Joe in flagranti. Vollgepumpt mit Speed und Alkohol, fängt sie wie eine Verrückte zu kreischen an, reißt sie die nackte Kontrahentin an den Haaren aus dem Bett, schlägt sie enthemmt auf die überrumpelte, vor Verblüffung völlig gelähmte Frau ein, bis diese heulend vor ihr zu Boden geht. Monika tobt ungebremst weiter, hat jegliche Kontrolle über sich verloren und tritt der Wehrlosen mit den hohen weißen Lackschnürstiefeln schließlich mehrmals wuchtig gegen den Kopf, bis Joe, der sich inzwischen gefangen hat, energisch dazwischengeht und seinerseits auf Monika einzudreschen beginnt. Blutend und wimmernd kauern die beiden Frauen endlich vor ihm, und Joe hat nichts Besseres zu tun, als vor Hilflosigkeit laut zu lachen.
Monika flieht zu Vera, und der Clubchef persönlich sorgt dafür, daß Joe höchst unsanft aus der Wohnung geworfen wird, man montiert ein neues Türschloß. Viel hat nicht gefehlt, und sie hätte am absoluten Tiefpunkt ihrer bisherigen Existenz einen Menschen umgebracht. Zum Glück verzichtet das Opfer ihres Ausrastens darauf, Monika anzuzeigen, obwohl die junge Drogistin wegen heftiger Kopfbeschwerden etliche Wochen in ärztlicher Behandlung zubringen muß. Wahrscheinlich fürchtet sie sich vor weiteren Racheaktionen aus dem Rotlichtmilieu, mit dem sie den charmanten Mann, der behauptete, Single und neu in der Stadt zu sein, in keinerlei Beziehung gebracht hatte, bis die Furie über sie herfiel.
Der Tragweite des Geschehenen will Monika sich um keinen Preis stellen. Sie schiebt die Verantwortung allein Joe zu, der in diesen Winterwochen ohne Unterkunft auf der Straße steht. Aber es war sie, die jede Hemmschwelle überschritten und in blinder Wut
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