...und plötzlich war alles ganz anders... (Kriminalromane) (German Edition)
jetzt nicht“, sagte er, „weshalb genau willst du fahren?“
„Ich will mir die Hintergründe ansehen, herausfinden, wer dieses Mädchen war, wie sie lebte, vielleicht herausfinden, was sie fühlte.“
Erstaunt hielt sie inne. Das hatte sie nicht erwartet, in Martellis Augen sah sie Tränen.
„Das willst du tun?“
„Ja, ich finde, darauf hat Maria Wagedorn einen Anspruch. Wir können sie nicht einfach zu den Akten legen, ohne zu wissen wer sie war und was sie bewegte. Sie war ein junger Mensch, der von fünf rücksichtslosen Burschen einfach so zertreten wurde.“
Auf Martellis Wangen zeigten sich Tränen.
Frau Sänger war etwas irritiert, so hatte sie ihren Kollegen noch nie erlebt. Sie beschloss seine Tränen zu ignorieren. Sie wollte ihn nicht verletzen.
„Wenn du nichts dagegen hast, würde ich mich in den nächsten zwei, drei Tagen um Maria Wagedorn kümmern. Die Vorbereitung für Wismar ist nicht so wichtig, dafür bleibt mir immer noch genug Zeit. Ich kann jetzt nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, ich will wissen, wer sie war.“
Erwartungsvoll sah sie Martelli an, aber der reagierte nicht darauf. Er stand nur da und die Tränen rannen ihm die Wangen hinunter.
„Ich werde also nach Reinberg fahren und mich mit den Leuten dort unterhalten. Vielleicht kann ich etwas von dem Mädchen der Wirklichkeit zurückgeben.“
Mit nassen Augen nickte Martelli nur.
„Ich habe schon mit Weber gesprochen, er ist zwar nicht einverstanden, aber das ist mir ziemlich egal. Ich werde fahren und zwar heute noch.“
Ohne dass sie etwas dagegen tun konnte umarmte sie ihr Kollege. Mit Tränen in den Augen sagte er, „Sonja..., du bist ein feiner Mensch. Niemand außer dir hat das Mädchen gesehen, jeder sah nur das Objekt, das Opfer. Sie wurde nur herumgeschubst, während sie lebte und jetzt da sie tot ist, verfault ihr Andenken zwischen zwei modrigen Aktendeckeln.“
Langsam löste er sich von Sonja, ergriff mit beiden Händen ihre Hand und drückte sie fest: „Danke...“, flüsterte er: „Ich danke dir...“
Sonja Sänger war etwas irritiert, sie verstand zwar seine Reaktion, war aber über die Tiefe seiner Erregung erstaunt. Um die verlegene Stimmung etwas zu überspielen sagte sie, „also ich gehe dann.“ Sie deutete auf den kleinen Koffer neben ihrem Schreibtisch: „Ich hab alles dabei. Ist ja nicht weit, ich denke, dass ich nur zwei drei Tage bleiben werde.“
„Was hat Weber dazu gesagt?“
„Wie ich bereits gesagt habe, er war nicht einverstanden, hat aber dann doch zugestimmt.“
„Nein, nein“, grinste Martelli. Er hatte sich die Tränen zwischenzeitlich weggewischt: „Das meine ich nicht, ich meine die Reisekosten!?, der ist doch immer so klamm, wenn's ans Genehmigen von Dienstreisen geht.“
„Was für Reisekosten?“, lachte Frau Sänger, „das zahl ich schön selbst!“
„Und wo wirst du wohnen?“, fragte Martelli besorgt? „Soweit ich weiß gibt’s in dem Kaff gar kein Hotel!“
„Nein, gibt es nicht, aber der Wirt von damals, der lebt noch. Sein Sohn hat jetzt die Dorfkneipe übernommen. Ich habe mit ihm telefoniert, ich kann dort übernachten.“
Er griff nach dem kleinen Köfferchen und sagte: „K omm..., ich bringe dich zu deinem Wagen.“
Dankbar nickte die angehende Kriminalrätin und beide verließen untergehakt das Büro.
Kapitel 21
Ein – zwei Kilometer, bevor sie auf einer Nebenstraße zum kleinen Ort Reinberg einbog, durchfuhr die Kommissarin ein kleines Wäldchen. Unvermittelt schüttelte es sie. Hier hätte der Mord geschehen sein können, dachte sie sich, hier in der Nähe der Straße, die es damals vor vierundzwanzig Jahren noch nicht gab.
***
Reinberg war ein kleines Nest, jedoch größer, als Sonja Sänger es sich vorgestellt hatte. Sogar eine Verkehrsampel baumelte einsam im Wind über der einzigen Kreuzung des Ortes. Im Laufe der Jahre hatten sich kleine Wohnsiedlungen um das Dorf herum gebildet, der Baugrund war hier einfach günstiger, als in der nahen Kreisstadt. Die Straßen waren fast menschenleer. Sauber geputzt, kein Fetzen Papier oder Unrat auf den Gehwegen, wirkte das Dorf wie ausgestorben. Nur zwei alte Frauen standen in der fahlen Oktobersonne und unterhielten sich. Ein Bildhauer hätte sich des Themas annehmen, sie in Stein hauen können.
***
Die Dorfkneipe zu finden war für Sonja Sänger nicht schwer. Sie lag an der alten Straße, in Richtung Kreisstadt, die ihre Bedeutung verloren hatte, nachdem vor fünfzehn Jahren die
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