...und plötzlich war alles ganz anders... (Kriminalromane) (German Edition)
das Mädchen selbst, ihre Person, die sie nicht los ließ! Jeder in Martellis Team hatte sich um den Fall gekümmert, aber niemand wusste etwas über das Mädchen. Sicher sie war tot. Und nach vierundzwanzig Jahren ist es schwer das Leben eines jungen Menschen zu rekonstruieren. Aber niemand hatte es versucht. Niemand wollte wissen, wer Maria Wagedorn war. Sie blieb das Objekt einer Vergewaltigung, sonst nichts. Ein Menschenleben wurde ausgelöscht. Ausgelöscht von fünf Jungen, von denen jeder einzelne nach der grausigen Tat nur eines im Kopf hatte; wie komme ich aus dieser Misere wieder heraus . Aber Maria war keine Misere, sie war ein Mensch! Ein Mensch mit Wünschen, Träumen, Hoffnungen. Die nun alle zu dieser kalten, emotionslosen, fast brutalen Bildserie des Polizei-Fotografen zusammen geschnurrt waren.
Sie sah auf die große Uhr über der Eingangstür. Fast neun Uhr abends! Sie sollte heim gehen, ihr Mann war sicherlich bereits zuhause. Nachdenklich klappte sie die Akte zu, erhob sich von ihrem Stuhl und griff im Hinausgehen nach ihrer Jacke.
Bevor sie den Lichtschalter betätigte ließ sie ihren Blick durch das karg und lieblos eingerichtete Büro wandern. In zwei Monaten würde sie in ein anderes Büro wechseln, das vermutlich ebenso karg und lieblos eingerichtet war.
Karg und lieblos –, das war es was sie störte! Genau wie die Berichterstattung in der Akte Wagedorn. Und plötzlich wusste sie was noch zu tun blieb! Und sie wusste auch, dass dies nur eine Frau tun konnte. Selbst wenn sich ihre Abreise nach Wismar sich verschieben würde, sie würde nach Reinberg fahren, morgen schon. Sie würde Maria ihr Andenken und ihre Würde wiedergeben. Sie würde mit Martelli und Weber sprechen, die ganz bestimmt nicht begeistert von dieser Idee sein würden. Aber sie wusste auch, dass sie es tun musste!
Kapitel 20
27. Oktober 1995
Sonja Sänger und Martelli waren allein im Büro. Weingart kümmerte sich um den Antrag für die Dienstreise eines Kollegen, die Weber ja doch nicht genehmigen würde und Peter Wiegand trieb sich wohl wieder bei der Spurensicherung herum. Dort, so sagte er oft, dort wäre sein Wunsch-Arbeitsplatz. Leider hatte er dafür die falsche Grundausbildung. Toke Brandt hatte sich krank gemeldet. Ihn hatte eine leichte Grippe erwischt.
Martelli und Sonja Sänger saßen an ihren Schreibtischen und arbeiteten.
„Du Robert!“, sagte Frau Sänger in die Stille.
„Ja...?“, brummte Martelli in eine Akte vertieft.
„Ich werde heute nach Reinberg fahren!“
Martelli hob den Kopf und sah seine Kollegin erstaunt an.
„Aber warum denn? Für dich ist der Fall doch abgeschlossen! Solltest du dich nicht lieber um dein neues Aufgabengebiet in Wismar kümmern?“
„Ja..., sollte ich! Trotzdem werde ich fahren, wenn du mich in den nächsten Tagen nicht brauchen solltest!“
„Na ja..., einer angehenden Kriminalrätin kann ich schließlich keine Anordnung geben“, sagte Martelli und lächelte sie an. Es sollte freundschaftlich klingen aber Martelli sah am Gesichtsausdruck seiner Kollegin, dass er sich unbeabsichtigt im Ton vergriffen hatte, die Bemerkung gar nicht gut ankam. Deshalb beeilte er sich zu sagen: „Entschuldige Sonja, so wollte ich das nicht verstanden wissen.“
Die Ärgerfalten in Sonjas Gesicht glättete sich wieder etwas: „Ich habe mich schon gewundert, von dir hätte ich solch chauvinistische Regungen am allerwenigsten erwartet!“
„Entschuldige“, sagte Martelli und Sonja nickte und machte mit der Hand eine wegwerfende Handbewegung.
„Also..., du möchtest nach Reinberg fahren.“
„Ja!“
„Und..., gibt's dafür einen bestimmten Grund?“
„Robert...“, sagte Sonja und drohte scherzend mit dem Zeigefinger, „du solltest auf deinen Ton achten!“
„Verzeih, aber dieser Fall hat mich wirklich etwas aus der Bahn geworfen. Das Mädchen..., mir geht dieses arme Geschöpf nicht aus dem Kopf.“
Seine Kollegin nickte. Das war der Robert den sie kannte, niemandem sonst in der Truppe hätte sie Mitgefühl für das Opfer zugetraut. Für ihre Kollegen war Maria Wagedorn nur ein Fall, der aufgeklärt werden musste und damit fertig!
„Sie ist gestorben. Ganze siebzehn Jahre war sie alt. Kaum angefangen zu leben und dann wird sie zertrampelt, als ob sie Unkraut wäre. Was sind das bloß für Zeiten in denen wir leben.“
„Siehst du..., genau deshalb will ich nach Reinberg fahren“, erwiderte Frau Sänger.
Martelli sah sie fragend an.
„Das verstehe ich
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