Und plötzlich warst du wieder da
Nadia zurück. „Also los“, sagte er.
Dutzende von Erklärungsversuchen gingen ihr durch den Kopf, während sie im Dauerlauf zum Wagen rannten. Aber keine könnte Lucas überzeugen. Selbst als sie schon losgefahren waren, grübelte Nadia noch. Wie konnte sie es ihm beibringen, ohne sich lächerlich zu machen?
„Fang an. Erzähl“, ermunterte er sie, als sie auf den Highway einbogen.
Nadia seufzte. Das abgedunkelte Innere des Wagens sollte es ihr leichter machen, dennoch konnte sie sich nicht recht entschließen. „Es klingt blöd, ich weiß. Aber ich muss spätestens um punkt Mitternacht zu Hause sein“, begann sie.
„Und warum?“
„So verlangt es das Testament meines Vaters.“
„Und wenn du dich nicht daran hältst?“
„Dann kann es sehr unangenehm werden. Nicht nur für mich, sondern auch für Rand, Mitch und Rhett.“
„Wer, um alles in der Welt, ist Rhett?“
„Mein dritter Bruder oder, genauer gesagt, mein Halbbruder. Er ist jetzt etwas über ein Jahr alt. Dad hat uns kurz vor seinem Ableben noch mit Familienzuwachs überrascht.“
Nadia hatte bisher nur Fotos von den Kleinen gesehen, die als Anhang in den E-Mails aus Miami bei ihr angekommen waren. Zu gern hätte sie ihn persönlich kennengelernt, aber dank des idiotischen Testaments musste sie darauf noch zehn Monate warten. Den Bildern nach zu urteilen, sah Rhett aus wie ein echter Kincaid. Unwillkürlich dachte Nadia an das Baby, das sie und Lucas hätten haben sollen, wäre nicht der Unfall gewesen. Wem von ihnen hätte ihr Sohn wohl ähnlich gesehen? Seinem Vater mit seinen blauen Augen und dem blonden Haar oder ihr mit den dunklen Haaren der Kincaids und den grünen Augen?
„Und was heißt das: Es könnte unangenehm werden?“, hakte Lucas nach.
Nadia zögerte. Sie war unsicher, wie viel sie verraten durfte, und beschloss, die Erklärung so kurz wie möglich zu halten. „Wenn ich die Bedingungen des Testaments nicht erfülle, setze ich das ganze Familienvermögen aufs Spiel, das heißt die Erbschaft jedes einzelnen von uns Geschwistern.“
Lucas fluchte leise vor sich hin. „Dein Vater war schon eine Marke für sich.“
„So kann man das auch sagen. Allerdings frage ich mich …“ Nadia hielt inne. Sie hatte schon zu viel gesagt.
„Fragst du dich … was?“ Lucas ließ es nicht auf sich beruhen.
„Je mehr ich über ihn erfahre, desto mehr frage ich mich, ob er mich eigentlich geliebt oder gehasst hat.“
„Auf jeden Fall hast du ihn an deine Mutter erinnert.“
Nadia nickte stumm und senkte den Blick.
Lucas nahm eine Hand vom Steuer und legte sie auf ihre Hände, die sie gefaltet im Schoß hielt. „Man kann dich nicht hassen, glaub mir, Nadia. Ich habe es versucht.“
Nadia schluckte. Das hatten sie in der Tat gemeinsam. Hassen konnte sie Lucas auch nicht, selbst wenn sie es manchmal wollte. Aber sie musste eines Tages über ihn hinwegkommen und ihn vergessen. Die Liebe, die sie einmal verbunden hatte, war nach diesen Jahren nur noch eine ferne Illusion.
„Geschafft. Sogar fünf Minuten vor der Zeit“, sagte Lucas, während Nadia ihre Wohnungstür aufschloss.
„Es tut mir leid, dass du meinetwegen das Ende des Stücks verpasst hast.“
Sie trat in den Flur und schaltete das Licht an. Nicht zum ersten Mal sah sie sich verstohlen um, ob irgendwo eine versteckte Kamera oder eine Lichtschranke oder sonst eine geheime Apparatur ihr Kommen und Gehen aufzeichnete und überprüfte, ob sie allein war oder nicht. Die Security zu bestechen, um solche Informationen zu erhalten, hätte allerdings noch mehr Everett Kincaids Stil entsprochen. „Jeder hat seinen Preis“, das war seine Maxime gewesen. Und Lucas war der lebende Beweis, dass ihr Vater damit richtiggelegen hatte.
Nadia wandte sich um und stellte fest, dass Lucas ihr in die Wohnung gefolgt war. Er stand dicht hinter ihr. Zu dicht. Es wäre besser, er würde jetzt verschwinden. In letzter Zeit hatte sie gemerkt, wie sie zuweilen verdächtig wankelmütig wurde, was ihn betraf. Außerdem war ihr aufgefallen, dass er sich neuerdings auffallend verständnisvoll und charmant zeigte. An diesem Abend während der Fahrstunde hatte er sich so benommen, auch als sie eilig das Restaurant verlassen hatten. Nadia wich zwei Schritte zurück.
„Morgen müssen wir etwas zeitiger anfangen“, sagte Lucas.
„Lucas, ich weiß deine Hilfe zu schätzen. Aber du hast sicherlich Wichtigeres zu tun. Ich verspreche, dass ich die Fahrschule anrufe, die mein Vater engagiert hat,
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