Und plotzlich ist es Gluck
berühren.
»Scarlett?« Andrea erscheint neben mir, lautlos wie ein Geist.
John fährt herum und lächelt, als er sie erblickt.
»Gibt es irgendwelche Probleme?«, frage ich und stehe auf, ohne auf den Schmerz zwischen meinen Beinen zu achten. Andrea legt mir beschwichtigend eine Hand auf den Arm.
»Nein, nein, keine Sorge, es ist alles bestens. Ihre Familie ist hier.«
»Meine Familie?«
»Ja. Declan und Maureen und Filly und Bryan. Sie stehen draußen im Korridor. Sie gehören doch alle zur Familie, oder?« Sie mustert mich prüfend.
»Maureen ist hier?«, hakt John nach. »Aber was ist mit der Premiere? Ist die nicht heute Abend?«
»Ja.« Ich nicke und schlucke schwer.
»Oh ja, davon hat sie uns schon erzählt«, sagt Andrea und nickt ebenfalls. »Romeo und Julia – das Musical, richtig? «
Ich nicke erneut.
»Sie hat gesagt: Scheiß auf die Premiere«, berichtet Andrea.
Wir stieren sie mit offenen Mündern an.
John hat sich zuerst wieder gefangen. »Das hat sie tatsächlich gesagt?«
»Mhm.« Andrea nickt.
»Heiliger Bimbam.« John sieht mich an, und wir grinsen nervös.
»Mir war gar nicht klar, dass Declan O’Hara Ihr Vater ist, Scarlett«, sagt Andrea. »Ich fand ihn toll in … Wie hieß noch gleich der Film, in dem er den schwulen Chefkoch spielt und mit dieser …« – Sie sucht nach einer möglichst salonfähigen Formulierung – »etwas leichtlebigen Frau verheiratet ist?«
»Etwas Warmes für zwischendurch«, sage ich.
»Ach, richtig.« Sie lächelt ihr weiches Marshmallow-Lächeln und lässt uns stehen.
Draußen auf dem Korridor weint und wehklagt Maureen wie eine Komparsin aus dem Film Die Asche meiner Mutter.
»Oh, Scarlett, Schätzchen!«, heult sie, als sie mich erblickt, und schießt wie eine Rakete auf mich zu. Bei meinem Rollstuhl angekommen, bleibt sie stehen, um etwas aus ihrer kleinen Handtasche hervorzukramen. »Hier«, sagt sie und reicht mir ein warmes, feuchtes Etwas. »Ich habe dir eine kalte Kompresse gemacht.« Inzwischen ist es eher eine lauwarme Kompresse. »Und Daddy hat dir dein Kissen mitgebracht.« Sie winkt Declan zu sich, der tatsächlich mein Kissen dabeihat. Maureen boxt es enthusiastisch – »damit es weicher wird« – und schiebt es mir hinter den Rücken. Das Kissen ist so weich wie eh und je, mit dem Unterschied, dass es jetzt zwei faustförmige Einbuchtungen hat, für die ich Maureen genauso dankbar bin wie für die lauwarme Kompresse und die Tatsache, dass sie überhaupt hergekommen ist, auch wenn sie ein sehr enges, tief ausgeschnittenes Kleid trägt. Ihr Gesicht strotzt vor Rouge und Puder unter dem engen Ammenkopftuch.
»Du verpasst die Premiere«, sage ich und sehe auf mein Handgelenk, an dem sich eigentlich meine Uhr befinden sollte. Ich musste sie abnehmen, um Ellen berühren zu dürfen, und ich weiß nicht, wo sie abgeblieben ist. Ich habe keinen Schimmer, wie spät es ist, ja, ich könnte noch nicht einmal die ungefähre Tageszeit sagen.
»Schätzchen«, sagt Maureen und setzt ihre empörte Miene auf. »Ich konnte doch unmöglich auf der Bühne stehen, während meine … Enkelin … hier um jeden Atemzug ringt!«
»Die Kleine schlägt sich sehr wacker, Mrs O’Hara«, mischt sich Andrea ein, die die Sachlage blitzschnell erfasst
hat. »Sie benötigt im Augenblick noch etwas Hilfe beim Atmen, aber sie ist schon viel weniger blass.«
»Nun gut, aber …« Maureen spürt, dass ihr das Drama zu entgleiten droht. »Sie ist schließlich auf der Intensiv station, da musste ich einfach kommen.«
»Und ich bin froh, dass du hier bist«, sage ich.
»Wirklich?«, fragt sie, und ihre empörte Miene verabschiedet sich, um einer aufrichtigen Verwunderung Platz zu machen.
»Ich bin sogar unheimlich froh«, sage ich und stehe auf. Ich habe vergessen, wie groß sie ist. Ich muss mich strecken, um sie zu umarmen. Einen Augenblick steht sie stocksteif da, mit hängenden Armen. Doch dann scheint sie sich plötzlich daran zu erinnern, wie es geht, so wie jemand, der nach zwanzig Jahren zum ersten Mal wieder auf einem Rad sitzt. Sie legt die Arme um mich und drückt mich kräftig an sich. Und ich kneife die Augen ganz fest zu und atme tief ein, inhaliere ihren Geruch nach Theatervorhängen und Bachblüten-Notfalltropfen.
»Du darfst sie dir ansehen, wenn du mir versprichst, dass du leise bist«, flüstere ich in ihr Haar.
»Ist sie sehr klein?«
»Wie das kleine Plastikpony, das ich mit sieben hatte.«
»Polly?«
»Nein, Molly. Polly war mein
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