Und plotzlich ist es Gluck
Einzige, was in der Stille zu hören ist. Ich strecke einen Arm aus, lege die Hand auf Ellen. Sie ist ganz blau und gibt keinen Ton von sich. Ihre Augen sind geschlossen, ihre Haut fühlt sich flüssig an.
Dann sind wir auf einmal von Menschen umringt. Manche tragen weiße Kittel, manche blaue oder grüne. Es wird laut. Alle reden gleichzeitig, und doch nehme ich nur die Stille wahr, noch deutlicher jetzt.
»Warum weint sie nicht?«, schreie ich. Eine Frau in Weiß hantiert mit einer Schere an der pulsierenden Nabelschnur herum, die Ellen mit mir verbindet. »Nicht!« Sie sieht mich verwundert an, als würde sie mich erst jetzt bemerken und sich fragen, was ich hier zu suchen habe.
»Es muss sein«, beharrt sie. »Wir müssen uns um das Baby kümmern. Wir müssen es nach drinnen bringen.«
»Ellen«, sage ich. »Sie heißt Ellen.« Es erscheint mir auf einmal ungeheuer wichtig, dass die Schwester – und alle anderen hier – ihren Namen kennen. »Ellen O’Hara«, insistiere ich und drücke die Hand der Schwester, und sie lächelt
mich an und nickt. »Wird sie es schaffen?«, frage ich. Meine Stimme ist jetzt nur noch ein Flüstern, kleiner als Ellen. Es kommt keine Antwort.
Jetzt ist die Nabelschnur durchgeschnitten, und Ellen wird hochgehoben und von mir weggebracht. Ich habe das Gefühl, an einem Fenster zu stehen, gezwungen, den Geschehnissen in meinem Leben tatenlos zuzusehen.
Die Schwester dreht sich zu mir um, ehe sie verschwindet. »Wir kommen gleich mit einer fahrbaren Krankentrage und bringen Sie rein, ja?«
Ich versuche, mich aufzurappeln. »Nicht nötig. Ich komme so mit.«
»Nein«, sagt sie und dann, zu Red gewandt: »Was ist mit der Plazenta?«
»Ich … Keine Ahnung … «, stottert er. Vermutlich würde er eine Plazenta nicht einmal erkennen, wenn man sie ihm auf einem Teller servieren würde, garniert mit einem Salatblatt. Sein Gesicht ist leichenblass, und er klappert mit den Zähnen, als wäre ihm kalt.
Sobald Ellen weg ist, wird es wieder still in der Kutsche, und die Erkenntnis, dass sie es nicht schaffen wird, trifft mich mit voller Wucht. Ich habe es an der gütigen Miene der Krankenschwester erkannt. Ich erkenne es an der Art, wie Red meine Hand umklammert, so fest, dass es eigentlich wehtun müsste, aber ich spüre nichts. Ich schließe die Augen. Ich weine nicht. Ich schreie nicht. Ich lasse mich auf eine Trage auf Rollen legen und schweigend ins Krankenhaus fahren. Dann geht es in einem Aufzug nach oben. Ich presse, als man mir sagt, dass ich pressen soll, und dann verkündet die Hebamme fröhlich: »Die Plazenta ist da«, als würde das irgendeinen Unterschied machen.
Ich spüre nichts, als ich genäht werde, obwohl ich mir wünsche, es würde wehtun.
»Wie lange wird das hier dauern?«, frage ich die Schwester.
»Nicht lange.«
»Ich muss zu Ellen.«
»Die Ärzte kümmern sich um sie«, sagt die Schwester, ohne den Kopf zu heben, der sich zwischen meinen Beinen befindet.
»Kann ich sie sehen?«
»Selbstverständlich. Sobald ich fertig bin, okay?« Sie erhebt sich und drückt mir die freie Hand. Die andere hält Red umklammert.
Sie lassen mich nicht gehen. Ich bin zu schwach, heißt es. Ich fühle mich nicht schwach, bloß leer. Und mir ist kalt. Ich lasse mich in einen Rollstuhl verfrachten und von einer Krankenschwester schieben. Red geht neben mir her, er hält noch immer meine Hand. Wir sagen nichts. Es gibt nichts zu sagen.
Wir befinden uns jetzt in der vierten Etage. Hier ist es ruhiger. Die Schwester redet, ein Monolog, der hinter mir herschwebt wie der Schwanz eines Flugdrachens. Ich registriere nicht, was sie sagt. Ihre Stimme prallt von den Wänden des Korridors zurück, ihre Worte entschweben in Richtung Decke, die ganz vergilbt ist von all den Worten, die hier schon gesprochen wurden – zu Frauen wie mir. Zu Müttern wie mir.
Wir öffnen die Tür, und Red umklammert meine Hand noch fester. Am Fenster steht eine Krankenschwester mit einem Klemmbrett, die auf dem hinteren Ende ihres Kugelschreibers herumkaut. Sie lässt den Stift sinken, malt einen Haken in ihren Unterlagen, sagt etwas zu dem Arzt neben ihr. Er hat einen weißen Kittel an und ein Stethoskop um den Hals. Er zeigt auf das Blatt auf ihrem Klemmbrett, und
sie nickt und hakt erneut etwas ab. Dann heben die beiden zugleich den Kopf und sehen uns an. Wie zwei Marionetten, die am selben Faden hängen.
»Ah, Sie müssen Ellens Mutter sein«, sagt der Arzt lächelnd und beugt sich ein wenig zu
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