Und plotzlich ist es Gluck
das ich nie kennenlernen werde. Ich verspüre das Bedürfnis, Ellen ein Versprechen zu geben.
»Ellen«, wispere ich, »ich verspreche dir …«Ich verstumme, weil ich nicht weiß, was ich ihr versprechen soll. Ich bin vorsichtig mit Versprechungen, sie sind so fragil, so leicht zu brechen. Stattdessen denke ich einfach an sie, und ich lächle, ohne es zu wollen. Es gibt ungefähr vierundfünfzig andere Dinge, an die ich eigentlich denken sollte, aber ich denke an Ellen. Und lächle. Und im Halbdunkel der Welt zwischen Schlaf und Erwachen male ich mir aus, wie sie wohl aussehen und riechen wird, und wie es sich wohl anfühlen wird, wenn sie mir ihre warmen Ärmchen um den Hals schlingt.
Dann hält die Realität Einzug in der Gestalt von Maureen, die mit einem Tablett mein Zimmer betritt.
»Guten Morgen, Schätzchen. Wie fühlst du dich heute? « Sie trägt ein Krankenschwesternoutfit: schlichtes weißes Kittelkleid, dunkelblaue Wolljacke und bequeme, flache Schuhe.
»Ich war beim Fleischhauer«, verkündet sie und setzt das Tablett neben mir auf dem Bett ab.
»Beim Fleischhauer?« Auf einem riesigen Teller liegt quasi ein halbes Schwein, und zwar in Form von Frühstückswürstchen, gebratenem Speck, Blutwurst, Leberwurst und Koteletts. Ich spüre, wie sich mein Magen für ein Tête-à-tête mit meinem Kehlkopf rüstet. Rasch wende ich den Blick ab, und das Gefühl vergeht. »Danke, Maureen, aber … du weißt doch, ich bin Vegetarierin.«
»Schon, aber gestern …«
»Gestern hatte ich einen schwachen Moment. Keine Ahnung, was da in mich gefahren ist.«
»Oh. Ich dachte, vielleicht hat dir der Arzt den Konsum von Fleisch empfohlen, wegen der Schwangerschaft.«
»Nein.«
Maureen macht sich bereit für eine Ankündigung. Ihre Körpersprache ist für mich wie ein offenes Buch.
»Scarlett, ich …«
»Entschuldige, aber ich muss mich übergeben.« Ich springe aus dem Bett und düse ins Bad, und obwohl mein Magen leer ist, erbreche ich einen guten Liter Gallenflüssigkeit in das gähnende Loch der Toilettenschüssel.
»Ich glaube, das war die morgendliche Übelkeit«, sage ich, als ich wieder in mein Zimmer zurückkehre, und strahle meine Mutter an.
Maureen stellt das Tablett auf dem Boden ab und schiebt es mit dem Fuß unter das Bett. »Ich glaube, ich leide an solidaritätsbedingter Übelkeit«, verkündet sie und fasst sich mit einer Hand an die Stirn.
»Warum machst du es dir nicht in meinem Bett bequem, und ich bringe dir eine Tasse Tee?«, schlage ich vor.
»Kamille?«, flüstert sie matt.
»Natürlich.«
»Mit Süßstoff?«
»Zwei Stück.«
»Danke, Scarlett.« Sie lässt sich in die Kissen sinken. Damit ist ihr kurzes Intermezzo der Fürsorglichkeit offiziell beendet. »Übrigens, ich ziehe in Erwägung, mir Strähnchen färben zu lassen. Rotgold. Was hältst du davon?«
»Nun, ich …«
»Cyril Sweeney meint, es würde mir bestimmt gut stehen. Dieser alberne alte Sack. Aber es ist eine Überlegung wert, meinst du nicht auch?«
»Was sagt denn Dad dazu?«
»Ach, der – dem würde es doch nicht einmal auffallen, wenn ich mir den Kopf kahlrasieren lasse und auf dem Esstisch einen Sonnentanz aufführe.«
Ich frage mich kurz, was ein Sonnentanz ist.
Dann gehe ich in die Knie, um das Tablett unter dem Bett hervorzuziehen. Ich halte die Luft an, als ich es aufhebe. Es ist schwer. Auf dem Teller liegt insgesamt gut und gern ein ganzes Kilo Fleisch. Aus dem Bett ertönt ein leises Wimmern.
»Was sagst du?«, frage ich, wobei ich das Tablett möglichst weit von mir entfernt halte.
»Ich … Ich weiß nicht, ob ich schon bereit bin, Großmutter zu werden«, greint Maureen. Ihr Kopf versinkt im Kissen, und sie hat sich die Decke bis zur Nasenspitze hochgezogen, so dass sie kaum noch auszumachen ist.
Dieses Geständnis wundert mich kein bisschen. Soweit ich das beurteilen kann, ist Maureen noch immer nicht bereit für die Mutterschaft. Ich stelle das Tablett noch einmal auf dem Boden ab, setze mich auf die Bettkante und taste unter der Decke nach ihrer Hand. Ich bin froh, dass ich ihr nichts von dem zweiten Baby gesagt habe.
»Hast du es Dad schon erzählt?«, frage ich.
»Nein, ich … Aua! Drück doch nicht so fest zu, Scarlett! «
»Entschuldige.«
Maureen hebt die betroffene Hand, pustet ein paarmal auf ihre Finger und bewegt sie vorsichtig, als müsste sie fürchten, dass einer davon gebrochen ist. Ich sitze daneben und warte auf das Ende der Szene. Es hat keinen Sinn, Maureen zur
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