Und Rache sollst du nehmen - Thriller
unterstützen, und davon hätten doch wohl alle am meisten, oder?« Die Familie von Sarah Reynolds wollte keinen Kommentar abgeben.
Meine Tochter ist nicht auf die Straße gelaufen. Meine Tochter hat die Straße vorsichtig überquert, wie es sich gehört. Meine Tochter war nicht ungezogen. Meine Tochter hat sich immer gut benommen.
Wallace Ogilvie war besoffen. Wallace Ogilvie hatte die Promillegrenze ums Doppelte überschritten. Wallace Ogilvie fuhr über siebzig Stundenkilometer in einer Tempo-50-Zone. Wallace Ogilvie war ein Mörder. Wallace Ogilvie hat meine Tochter ermordet. Wallace Ogilvie verbrachte schließlich ein Jahr im Gefängnis.
Es gab keinen anonymen Augenzeugen. Den hatte Keith Imrie erfunden. Ich habe jedes einzelne Wort jedes einzelnen Zeugen in diesem Gerichtssaal gehört. Keiner von ihnen hätte einen solchen Bericht abgeliefert, nicht mal ansatzweise.
Ronald Cooke wurde nicht richtig zitiert. Ich habe mit Ronald Cooke gesprochen. Keith Imrie hat ihm die Worte in den Mund gelegt.
Wir wollten sehr wohl einen Kommentar abgeben. Und wie.
Imries Worte, seine schlüpfrigen kleinen Worte, suchten mich immer wieder heim. Wie beißende, brennende, glühende Nadelstiche. Salz in meinen offenen Wunden.
Der arme Fahrer.
Unberechenbares Verhalten.
Ein bisschen ungezogen.
Ohne Aufsicht.
Einen hohen Preis.
Unfall.
Wohltätige Zwecke.
In den Drink gemischt.
Das Herz brechen.
Rumblödeln.
Schuldgefühle.
Hetzjagd.
Bedauernswerter Unfall.
Worte wie Pfeilspitzen. Wie Handgranaten. Wie Bärenfallen. Wie ein Tritt in die Eier, wenn man schon am Boden liegt.
Keith Imrie war ein Lügner. Keith Imrie hat die Erinnerung an meine Tochter geschändet. Keith Imrie durfte sich das nicht erlauben. Und vor allem nicht damit durchkommen. Was für ein Journalist konnte so gewissenlos über ein totes Mädchen schreiben? Was für ein Vater würde für die eigene Tochter nicht alles tun? Mach die Augen ganz fest zu und wünsch dir was. Und tu alles, um sie zurückzuholen. Alles.
48
Die Ingram Street an einem kühlen, feuchten Morgen im Mai. Touristen in dicken Pullis und Regenjacken, Einheimische im T-Shirt. Autos rasen, Pfützen spritzen hoch, Fußgänger springen zur Seite. Busse verpesten die Luft mit ihren Abgasen, ein scharfer Wind treibt den Müll die Straße hinunter. Die Menschen eilen ins Nirgendwo. In ein Nirgendwo, das mit Hundescheiße, Kaugummi und Papiertüten von Greggs gepflastert ist. In Glasgow war alles wie immer.
Der Cutter war verschwunden, und kaum zwei Minuten später kam es einem vor, als hätte es ihn nie gegeben. Vielleicht hatte es ihn auch nie gegeben.
Doch ich war noch immer unter ihnen. Niemand tastete mich an, niemand erkannte mich, niemand verhaftete mich. Der Wind trieb mich an ihnen vorbei, sie bemerkten mich aus einem tränenden Augenwinkel, ein flüchtiger, bald vergessener Blick. Im Fernsehen lief das Pokalfinale, da konnte man nicht über einen Mann nachgrübeln, der nicht mal mehr am Leben war. Ein Teil von mir wollte einen von ihnen anhalten und aufklären oder am besten gleich alle. Ich war’s, ich war der Cutter. Am liebsten hätte ich es laut herausgeschrien. Denn so, wie es jetzt war, funktionierte es einfach nicht.
Selbst wenn sie kalt serviert wird, schmeckt die Rache nicht halb so süß, wie man es sich erhofft. Im Mund
bleibt ein säuerlicher Geschmack zurück, gepaart mit der tief verwurzelten Gewissheit, dass irgendetwas fehlt. Ein Gefühl der Leere, ein peinigender Mangel an Befriedigung.
Ich wollte es allen sagen, ich konnte es niemandem sagen. Denn dadurch hätte ich es im Nachhinein komplett verdorben, meine wunderschönen Pläne wären vor die Hunde gegangen. Imrie hätte man als unschuldiges Opfer betrauert, obwohl er sich der schrecklichsten Sünde überhaupt schuldig gemacht hatte. Aber was noch schlimmer, viel schlimmer war: Man hätte die Erinnerung an mein geliebtes Mädchen in den Dreck gezogen. Sie hatte einen Taxifahrer als Vater gehabt, keinen Mörder. Niemals.
Es rasselte in mir. Wie ein Schlüssel in einer leeren Keksdose schepperte es gegen die letzten Überbleibsel meines Gewissens. Ein Mensch, der der Welt sein dunkelstes Geheimnis ins Gesicht schreien will, wird niemals Frieden finden.
Die Ingram Street an einem kühlen, feuchten Morgen. Anklagende Blicke der Unwissenden. Ich hastete an ihrem ausdruckslosen Starren vorbei, an ihren demonstrativ erhobenen Fingern, an ihrer demonstrativen Gleichgültigkeit. Sie oder ich, einer von
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