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Und so verlierst du sie

Und so verlierst du sie

Titel: Und so verlierst du sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Junot Díaz
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Hand auf die Brust gelegt. Warte, hast du gesagt.
    Unten haben die Jungs vor dem Fernseher rumgebrüllt.
    Du hast das Wasser aus deinem Mund rinnen lassen, es war kalt. Bis zu meinem Knie bist du gekommen, bevor du von der Flasche nachnehmen musstest. Ich habe auf deinen Atem gelauscht, der ganz flach ging, und auf das Schwappen des Wassers in der Flasche. Und dann hast du mein Gesicht und meinen Schritt und meinen Rücken beträufelt.
    Du hast meinen vollen Namen geflüstert, wir sind umschlungen eingeschlafen, und ich weiß noch, wie du am nächsten Morgen verschwunden warst, vollkommen verschwunden, und nichts in meinem Bett oder dem Haus hätte das Gegenteil beweisen können.

DAS PURA-PRINZIP
    Die letzten Monate. Da konnte man sich nichts vormachen, da gab es nichts schönzureden: Rafa starb. Zu der Zeit kümmerten sich nur noch Mami und ich um ihn, und wir wussten verdammt nochmal nicht, was wir tun, was wir sagen sollten. Also haben wir einfach nichts gesagt. Meine Mom war sowieso nicht der überschwängliche Typ, sie wirkte eher, als würde sie ein Ereignishorizont umgeben – egal, was auf sie einstürzte, man wusste nie, was sie davon hielt. Sie schien es einfach in sich aufzunehmen und strahlte nichts ab, kein Licht und keine Wärme. Aber ich hätte gar nicht reden wollen, selbst wenn sie dazu bereit gewesen wäre. Die paar Mal, die meine Jungs in der Schule davon anfangen wollten, habe ich ihnen gesagt, sie sollen sich um ihren eigenen Scheiß kümmern. Sollen sich bloß verziehen.
    Ich war siebzehneinhalb und habe so viel gekifft, dass es schon ein Wunder war, wenn ich mich pro Tag an eine ganze Stunde erinnern konnte.
    Meine Mutter klinkte sich auf ihre Weise aus. Sie schuftete sich kaputt – mit meinem Bruder und der Fabrik und ihrem Haushalt weiß ich nicht, ob sie überhaupt schlief. (Ich rührte in unserer Wohnung keinen beschissenen Finger, das Vorrecht der Männer, Baby.) Trotzdem schaffte die Frau es, sich hier und da ein paar Stunden für ihren neuen Typen namens Jehovah abzuzwacken. Ich hatte mein yerba, sie hatte ihres. Vor dieser Sache hatte sie mit der Kirche nie viel anfangen können, aber sobald wir auf dem Planeten Krebs gelandet waren, drehte sie jesusmäßig so ab, dass sie sich wahrscheinlich sogar ans Kreuz genagelt hätte, hätte sie eines zur Hand gehabt. Im letzten Jahr war sie ein einziges Ave Maria. Zwei-, dreimal am Tag holte sie ihren Gebetskreis in unsere Wohnung. Die vier apokalyptischen Reittiere, so nannte ich sie. Vor allem Gladys, die Jüngste, hatte ein Gesicht wie ein Pferd – ein Jahr zuvor hatte man bei ihr Brustkrebs festgestellt, und mitten während ihrer Behandlung war ihr mieser Ehemann nach Kolumbien abgehauen und hatte eine ihrer Cousinen geheiratet! Halleluja! Eine andere Frau, den Namen konnte ich mir nie merken, war erst fünfundvierzig, sah aber aus wie neunzig, ein völliges Ghettowrack: übergewichtig, mit einem kaputten Rücken, kaputten Nieren, kaputten Knien, Diabetes und Verdacht auf Ischialgie. Halleluja! Aber der echte Bringer war Doña Rosie, die Nachbarin über uns, eine echt nette boricua, der fröhlichste Mensch, den man sich vorstellen kann, obwohl sie blind war. Halleluja! Mit ihr musste man aufpassen, weil sie sich gerne setzte, ohne darauf zu achten, ob überhaupt irgendetwas annähernd Stuhlartiges hinter ihr stand; sie hatte schon zweimal das Sofa verfehlt und war auf den Hintern geknallt – beim letzten Mal hatte sie gebrüllt, Dios mío, qué me has hecho? – und ich musste mich aus dem Keller hochschleppen, um ihr aufzuhelfen. Diese viejas waren die einzigen Freundinnen meiner Mutter – sogar unsere Verwandten hatten sich nach dem zweiten Jahr dünnegemacht –, und nur, wenn sie herüberkamen, wirkte Mami halbwegs so wie früher. Erzählte mit Vorliebe ihre albernen campo-Witze. Servierte den Kaffee erst, wenn sie sicher war, dass in jeder tacita genau gleich viel war. Und wenn eine von den vieren sich etwas vormachte, ließ Mami es sie mit einem schlichten, langen
Bueeeeennnnoooo
wissen
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Die restliche Zeit war sie absolut undurchschaubar und ständig in Bewegung: Sie putzte, schaffte Ordnung, kochte Essen, ging zum Laden, um dieses zurückzugeben und jenes zu holen. Wenn ich dann mal sah, dass sie eine Pause machte, hielt sie sich eine Hand vor die Augen, und dann wusste ich, dass sie erschöpft war.
    Aber wer den Vogel abschoss, war Rafa. Als er nach der zweiten Runde aus dem Krankenhaus kam, tat er so, als wäre nichts

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