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Und tot bist du

Und tot bist du

Titel: Und tot bist du Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Higgins Clark
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befreien.«
    Aber es wird nichts nützen, dachte Henry. Wir haben zwar keine andere Wahl, aber irgend etwas sagt mir, daß wir einen entsetzlichen Fehler machen.
    Er fing an überzuschnappen. Sunday stellte fest, daß sich das Verhalten ihres Entführers allmählich änderte. Sie hörte, wie er oben auf der Treppe die Frau anschrie, die er Mutter nannte. War sie wirklich seine Mutter oder gehörte es auch nur zum Spiel? Genauso wie die Mönchskutte, dachte sie. Die Verkleidung sieht aus, als hätte er sie vom Kostümverleih.
    Der Lärm hatte sie aufgeweckt, und sie fragte sich, wie spät es wohl sein mochte. Seit er sie photographiert hatte, waren bestimmt einige Stunden vergangen. Hatte Henry die Bilder schon erhalten? Würde er die Wut in ihrem Gesicht erkennen und wissen, daß sie immer noch um ihre Freiheit kämpfte? Daß sie noch lange nicht bereit war aufzugeben?
    Sie zwang sich, nicht auf die gräßlichen Schmerzen in Schulter und Oberarm zu achten. Warum war der Arm nicht einfach eingeschlafen wie ihre Beine, so daß sie nichts spürte? Ich habe keine Durchblutung mehr, überlegte sie. Wenn Henry hier wäre, würde er …
    Sie schüttelte den Kopf. Daran durfte sie nicht denken.
    Die Vorstellung, wie Henry die Fesseln durchschnitt, sie in seine Arme hob, ihr sanft die schmerzenden Beine massierte, bis das Blut wieder zu fließen begann … all das war im Augenblick nicht mehr als ein schöner Traum, und sie riskierte, die Fassung zu verlieren, wenn sie ihm weiter nachhing. Sie mußte stark sein und den Kampf auf Leben und Tod aufnehmen. Und falls sie unterliegen sollte, würde sie ihrem Gegner zuvor noch so viel Schaden wie möglich zufügen.
    Bei ihrer geistigen Parade der Fälle, die sie in sieben Jahren bearbeitet hatte, war sie mittlerweile im vierten Jahr angelangt. Nur die wichtigsten Fälle, verbesserte sie sich.
    Halbstarke, die sich mit dem Rausschmeißer einer Kaschemme angelegt hatten, gehörten nicht auf diese Liste.
    Zum Glück habe ich ein ausgezeichnetes Gedächtnis, beruhigte sich Sunday, während sie den Kopf schüttelte, um den rauhen Sack zu lösen, der ihr an der Stirn klebte. Mutter sagte immer, ich sei darin wie ihre Tante Kate. »Sie hat eine gute Beobachtungsgabe, und ihr entging nichts«, hatte Mom Henry erklärt, als sie ihn in die Familiengeschichte einweihte. »Und neugierig war sie auch noch. Ich werde nie vergessen, wie Kate mich gefragt hat, ob ich ihr etwas zu erzählen hätte. Damit meinte sie, ob ich in anderen Umständen sei. Mein Gott, ich war noch keine Woche mit Sunday schwanger, und ich hatte nicht vor, damit hausieren zu gehen. Meiner Ansicht nach …«

    Sunday hatte den Satz für sie beendet: »Deiner Ansicht nach gehört es sich nicht, wenn eine Frau ihren Zustand bekanntgibt, bevor sie nicht mindestens im vierten Monat ist. Vielleicht hatte deine Tante Kate eine schmutzige Phantasie. Ich habe gehört, das liegt in der Familie.«
    Aber ich bin wie die alte Tante Kate, hielt Sunday sich vor Augen, ein aufmerksamer Mensch, dem es auf jedes Detail ankommt. Und dieser Ring ist eindeutig eine Einzelheit, die mir im Gerichtssaal aufgefallen ist.
    Das Geräusch von Schritten riß sie aus ihren Gedanken.
    Ein ängstlicher Schauder durchfuhr sie. Sie wußte nicht, was schlimmer war: Wenn der Entführer sich leise an sie heranschlich, oder wenn er sein Kommen mit lauten Schritten ankündigte.
    Offenbar war es Morgen. Sunday bemerkte, daß sie Hunger hatte. Würde er ihr etwas zu essen geben? Er hatte eine Kassette erwähnt. Wann würde er sie aufnehmen?
    Die Schritte schlurften über den Betonboden. Dann wurde Sunday der Sack abgenommen. Vor ihr stand die in eine Kutte gekleidete Gestalt. Der Mann streckte die Hand aus und schaltete die Glühbirne ein, so daß Sunday von dem Licht geblendet wurde. Als sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, sah sie den Entführer an und versuchte wieder, sein Gesicht zu erkennen. Obwohl es im Schatten der Kapuze lag, starrte sie darauf und zermarterte sich das Hirn. War sie ihm schon einmal begegnet? Tiefliegende Augen, knochige Züge, vermutlich über fünfzig.
    »Mutter hätte besser aufpassen sollen«, sagte er verärgert.
    »Sie hat die Milch über Nacht draußen stehenlassen, und jetzt ist sie sauer. Ich fürchte, Sie werden mit trockenen Frühstücksflocken und schwarzem Kaffee vorliebnehmen müssen. Aber zuerst bringe ich Sie zur Toilette.« Er ging um den Stuhl herum und fing an, ihre Fesseln zu lösen.

    Mutter hätte

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