Und trotzdem ist es Liebe
ich sie sofort aus und sage: «Hör zu, Vera. Wir gehen zu Daphne. Du kannst ja nicht mal kochen.»
«Wir können etwas bringen lassen», sagt sie.
«Mom. Lass es gut sein. Die Entscheidung steht fest.»
«Sagt wer?», fragt sie mit einer Kleinmädchenstimme.
«Sage ich. Also komm zu uns oder lass es bleiben. Liegt ganz bei dir.»
Als ich aufgelegt habe, erkenne ich, dass es wenigstens einen Vorteil hat, ganz am Boden zu sein: Mich kann nichts mehr aus der Fassung bringen oder ärgern. Nicht mal meine Mutter.
Nach ein paar Minuten ruft sie mich zurück und sagt versöhnlich: «Claudia?»
«Ja?»
«Ich hab’s mir überlegt.»
«Und?»
«Ich komme», sagt sie lammfromm.
«Braves Mädchen», sage ich.
Der Thanksgiving-Morgen ist trist und grau; es nieselt, aber gleichzeitig ist es für die Jahreszeit zu warm – eine deprimierende Kombination für ein langes Feiertagswochenende. Ich brauche meine ganze Willenskraft, um aufzustehen, zu duschen und mich anzuziehen. Einer der Lebensgrundsätze meiner Mutter geht mir durch den Kopf: Wenn du dich hübsch anziehst und gut aussiehst, geht es dir gleich besser . Obwohl ich ihr da eigentlich zustimme, missachte ich den Grundsatz und entscheide mich für einen uralten «J. Crew»-Rollkragenpullover und eine Levi’s mit verschlissenen Knien. Ich sage mir, das sei zumindest besser als Jogginganzug und Turnschuhe – die ich nur deshalb nicht angezogen habe, weil ich mir gut vorstellen kann, dass «das Tragen von Jogginganzug und Turnschuhen an Thanksgiving» in einem Heft mit dem Titel Anzeichen für Suizidgefahr aufgeführt ist.
Weil ich kein Taxi bekomme, muss ich zu Fuß zur Penn Station gehen und erwische gerade noch den Mittagszug. Ich muss mit dem Rücken zur Fahrtrichtung sitzen; davon wird mir fast immer schlecht. Auf halber Strecke nach Huntington fällt mir ein, dass ich meine schicke Achtundzwanzig-Dollar-Kürbispastete von Balthazar in der Küche auf der Theke vergessen habe. Laut sage ich: «Scheiße.» Eine alte Frau auf der anderen Seite des Ganges dreht sich um und starrt mich missbilligend an. Sorry , forme ich lautlos mit den Lippen, aber ich denke: Kümmere dich um deinen eigenen Kram, Lady . Dann mache ich mir zwanzig Minuten lang Sorgen, ich könnte zu einer missmutigen Person werden, die alte Leute nicht leiden kann. Oder, schlimmer noch, zu einer verbitterten Alten, die junge Leute hasst.
Als mein Vater mich am Bahnhof abholt, sage ich, dass wir noch beim Supermarkt vorbeifahren müssen, damit ich eine Pastete kaufen kann.
«Scheiß auf die Pastete», sagt mein Vater. Ich übersetze: Ich habe von Bens Verlobung gehört .
«Nein, wirklich Dad», sage ich. «Ich habe Daphne versprochen, eine Kürbispastete mitzubringen.»
Übersetzung: Ich bin eine totale Niete. Zu meinem Wort zu stehen ist das Einzige, was ich noch tun kann .
Mein Dad zuckt die Achseln, und ein paar Augenblicke später halten wir auf dem Parkplatz von Waldbaum’s. Ich springe hinein, schnappe mir zwei kümmerliche Kürbispasteten, die schon zum halben Preis zu haben sind, und nehme Kurs auf die Expresskasse: «Nicht mehr wie zwölf Artikel».
Als , denke ich und erinnere mich daran, wie amüsiert Ben immer war, wenn ich die Grammatik auf irgendwelchen öffentlichen Schildern korrigiert habe. Nicht mehr als zwölf Artikel, verdammt . Ich hoffe wirklich, Tucker ist ein mathematisch-naturwissenschaftlich gebildetes Mädel im strengsten Sinne und macht täglich ein paar Grammatikfehler. Sie hat in Harvard studiert, und deshalb weiß ich, dass sie sicher nicht «mir» und «mich» verwechseln wird. Aber «wie» statt «als» ist auch bei gebildeten Leuten ein verbreiteter Fehler.
Das Schöne daran ist, dass Ben dann jedes Mal an mich denken wird. Und eines Tages wird er vielleicht einknicken und ihr vortragen, was ich ihm vor so langer Zeit beigebracht habe: Die Vergleichspartikel ist «als», nicht «wie» . Vielleicht macht sie dann schmale Augen, und ein Schatten zieht über ihr Gesicht. «Hat deine Exfrau dir das beigebracht?», wird sie fragen, und ihre Geringschätzung wird in Eifersucht und dem Gefühl der Unzulänglichkeit gründen. Denn sie kann vielleicht Leute wieder zusammennähen, aber die Grammatik wird sie niemals so beherrschen wie ich.
Als ich gerade meine beiden kläglichen Pasteten und eine Dose Sprühsahne bezahle, sehe ich, dass Charlie, mein High-School-Boyfriend, sich hinter mir anstellt. Normalerweise freue ich mich, wenn ich Charlie und meine
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