Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld
auch in welcher Dosierung und wann« – hatte der Commissaris zu Protokoll genommen.
Am naheliegendsten wäre es gewesen, Pieters zu fragen, ob er sich vorstellen konnte, dass ein Fore Kevin ermordet haben könnte, aber die Vernunft hatte Van Leeuwen davon abgehalten. Er konnte ihm diese Frage immer noch stellen, wenn er anders nicht weiterkam. Bis jetzt wusste er nicht einmal, ob Pieters die Geschichte nicht von A bis Z erfunden hatte, um sich zu amüsieren – ein Puzzle, das er vor einem aufdringlichen Polizisten ausbreitete, während er Bruchstücke einer halb vertrauten Melodie summte.
Was war das bloß für ein Lied gewesen ?
Van Leeuwen warf einen Blick auf die Digitalanzeige des Radioweckers auf dem Nachttisch. Kurz nach vier, eigentlich schon Morgen.
Morgen. Er traute dem Wort nicht mehr. Seit er die Briefe gefunden hatte – vor allem aber, seit er suspendiert worden war –, suchte er eine neue Bedeutung dafür. Es war kein Gerüst mehr, versprach keinerlei tröstliche Routine. Nichts Verlässliches oder Vertrautes lag darin. Er musste es noch mit neuen Gewohnheiten auspolstern. Alltäglichkeiten, an denen er sich wie an einem Dienstplan orientieren konnte, mit etwas Besonderem hier und da.
Erst jetzt fiel ihm auf, dass er seit Tagen nicht mehr von dem brennenden Kind geträumt hatte. Aber er sah schon den nächsten Traum: ein elfenbeinweißer Junge, der aus dem Wasser gezogen wird, immer wieder, ohne Gesicht.
Er hatte nur zwei Stunden geschlafen, aber er war nicht mehr müde. Er stand auf und ging auf die Toilette und anschließend im Morgenrock in die Küche, um sich Kaffee zu kochen. Danach suchte er sein Arbeitszimmer auf, wo er in den Caprichos Goyas zu blättern begann, bis er zu den Skizzen des napoleonischen Eroberungsfeldzugs durch Spanien gelangte.
Die Soldaten, die mit Bajonetten aufeinander einstachen wie mit Speeren. Der Pöbel, der mit Äxten und Keulen auf Verwundete losging, Schädel zertrümmerte, Gliedmaßen abtrennte. Die verrenkten Körper der Toten, einer auf Knien, mit angezogenen Beinen. An den Ästen knorriger Tamarinden baumelnde Gehängte, aus denen Blut troff wie Wasser. Und die Ärzte, die aussahen wie Esel, überheblich und ratlos zugleich.
Der Commissaris schob den aufgeklappten Goya-Bildband aus dem Lichtkreis der Schreibtischlampe und griff nach dem Bericht des Pathologen, den er bereits zweimal vor dem Schlafengehen ge lesen hatte. Der Bericht war nüchtern und klar und enthielt sich jeglicher Spekulation, was seinen Inhalt noch erschreckender wirken ließ.
Der Körper des toten Deniz Aylan wies mehrere Verletzungen auf: einen Riss im Hinterhauptbein, der von einem heftigen Schlag auf den Schädel herrühren konnte, ausgeführt von einem Angreifer, der ebenso groß oder kleiner als das Opfer sein musste; gesplitterte Schläfenbeine, wo der Unterkiefer herausgebrochen und entfernt worden war; eine große, fast kreisrunde Öffnung im Gaumen; außerdem ein Gebissabdruck am rechten Oberarm, dicht an der Schulter.
Die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Gebisse einander gleichen, ist nicht größer als 1 : 2,5 Billionen , schrieb der Pathologe. Im vorliegenden Fall erleichtert eine eindrucksvolle Lücke zwischen den oberen Schneidezähnen die Identifikation zusätzlich (s. Anlage 1). Es hat den Anschein, als hätte das Opfer sich nach dem Schlag auf den Hinterkopf noch heftig gewehrt und wäre im Verlauf eines Kampfes gebissen worden. Anlage 1 war ein Foto der Zahnabdrücke am Körper des toten Jungen.
Weitere Besonderheiten, die auf einen Kampf hindeuteten: mikroskopisch kleine Mengen von Blut der Gruppe B (nicht identisch mit der des Opfers) und winzige Hautpartikel unter den Fingernägeln. Die Farbe der Partikel war dunkelbraun, fast schwarz, trotz einer Beschichtung durch Kokosnussöl und Kalk.
Die Genitalien des Jungen waren abgeschnitten worden. Die Nieren fehlten, die Entnahmewunden wiesen umfangreiche Spuren von Fischbissen auf. Beide Oberschenkelknochen waren zertrümmert, als hätte man mit einer Axt auf die Beine eingeschlagen. In den Venen gab es Einstiche von Injektionsnadeln und Schnitte, die wahrscheinlich – so vermutete der Pathologe – mit der Absicht angebracht worden waren, das Blut aus dem Körper abzulassen, das ganze Blut.
Wer tut so etwas, dachte der Commissaris; warum tut jemand so etwas ?
Außerdem befanden sich an den Fingern des Opfers Spuren wetterresistenter Acrylfarbe, zinnoberrot. Aufgeschürfte Knie und Schienbeine. Kein Wasser in den
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