Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld
nach persönlichem Gutdünken dehnen oder sogar brechen kann.«
»Kevin und Deniz«, sagte Van Leeuwen, »warum mussten die beiden Jungen sterben ? Was wussten sie ? Was hatten sie gesehen ?«
»Auf der einen Seite haben wir das Recht«, redete Pieters unbeirrt weiter, »das seinen Ausdruck in Gesetzen findet. Auf der anderen Seite haben wir die Menschen, auf die es angewendet wird. Niemand steht über dem Recht und den Menschen, nicht einmal der Papst. Niemand außer Gott. Halten Sie sich für Gott, Mijnheer van Leeuwen?«
»Nein«, sagte der Commissaris, »und ich glaube auch nicht, dass der Zweck die Mittel heiligt. Aber manchmal diktiert er sie. Da Sie verschwunden waren, musste ich auf andere Weise in Erfahrung bringen, was ich wissen wollte.«
Der Professor pustete in die kleinen Flämmchen, die sofort an den Holzscheiten zu lecken begannen. Dann sagte er: »Also gut,nachdem wir jetzt geklärt haben, dass Sie nicht Gott sind, wenden wir uns der Frage zu, was für ein Mensch Sie sind. Würden Sie sagen, dass Sie ein ordnungsliebender Mensch sind, Commissaris ? Und dass ein Verbrechen – jedes Verbrechen, aber besonders ein Mord – diese von Ihnen so geliebte Ordnung stört ? Sie wollen die Welt schön sauber, geordnet und überschaubar haben, eine adrette Welt, in der nichts hinter geschlossenen Vorhängen passiert oder verborgen werden muss. In der alle Menschen aufrecht und ehrlich und ohne Falsch sind, keine dunkle Leidenschaften, kein Chaos, richtig?«
»Ich habe nichts gegen das Chaos, solange es sich an die Jahreszeiten hält«, sagte Van Leeuwen.
»Wie bitte ?« Der Professor blinzelte ihn überrascht an. Die Flammen im Kamin loderten knisternd höher, schufen Schatten, wo vorher keine gewesen waren.
Van Leeuwen sagte: »Es gibt eine natürliche Ordnung, das ist die, nach der auf den Winter der Frühling folgt und auf den Sommer der Herbst. Oder nach der die Töne bei einem Bachkonzert angeordnet sind. Eine logische, keine künstliche. Recht und Ordnung sind künstlich geschaffen, aber um eine tiefere, natürliche Logik des Lebens zu schützen. Die Logik, der zufolge etwas geboren wird, damit es leben kann, und wenn sein Leben zu Ende geht, muss es sterben. Aber es muss von selbst sterben; es muss seine Jahreszeiten erleben können.«
» Mors certa hora incerta «, sagte Pieters. »Sicher ist der Tod, ungewiss ist nur die Stunde ...«
»Es gibt Krankheiten, die ein Leben vorzeitig beenden«, sprach Van Leeuwen weiter, »aber in gewisser Weise gehören sie zur natürlichen Ordnung, zur Logik der Dinge. Es gibt den Krieg, aber gegen den kann ich leider nichts ausrichten. Und schließlich gibt es das Verbrechen, den Mord, den Totschlag, und ich sage: Kein Mensch hat das Recht, einem anderen das Leben zu nehmen. Gott vielleicht. Gott hat vielleicht dieses Recht, und selbst Gott würde ich deswegen manchmal am liebsten vor Gericht bringen. Aber da ich den nun mal nicht zu fassen kriege, halte ich mich an die kleinen Mörder,die bloß denken, sie wären Gott und könnten sich der irdischen Gerechtigkeit entziehen.«
Pieters stand auf, griff nach seinem Whiskeyglas, das er auf dem Kamin abgestellt hatte, und ging zur Kredenz, um sich nachzuschenken. Dabei fragte er: »Aber was ist, wenn etwas, das in Ihren Augen ein Verbrechen darstellt, in den Augen des Täters gar keins ist ? Wenn er vom Leben eine ganz andere Vorstellung hat als Sie ? Wenn es einer völlig anderen Logik gehorcht ?«
Der Commissaris schüttelte den Kopf. »Einen anderen Menschen zu töten kann einem vielleicht manchmal logisch erscheinen, vielleicht sogar zwingend notwendig, aber es ist deswegen trotzdem nicht richtig, aus den Gründen, die ich eben genannt habe.« Er hielt inne, überlegte kurz. »Zugegeben, manchmal geschieht etwas, das niemand will, das aber auch niemand verhindern kann. Es geschieht sozusagen aus sich selbst heraus und kann doch als Verbrechen dastehen. Kevin ist tot, und niemand kann ihn wieder zum Leben erwecken. Dasselbe trifft auf Deniz zu. Wenn Sie mir jetzt sagen, was geschehen ist, wie es geschehen ist und warum es geschehen ist, wenn Sie mir die Wahrheit sagen, werde ich nicht mehr nur das Verbrechen sehen.«
»Und dann ?«
»Dann werde ich dafür sorgen, dass aus Recht Gerechtigkeit wird«, sagte Van Leeuwen.
Pieters seufzte. »Sie glauben, Sie könnten die Welt wieder einrenken ? Sie sind sehr stolz, Mijnheer van Leeuwen, das ist auch eine Sünde. Nicht, dass ich an die Sünde glauben würde –
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