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Und was, wenn ich mitkomme?

Und was, wenn ich mitkomme?

Titel: Und was, wenn ich mitkomme? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Prawitt
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steigen Stufen empor. Das Ganze wirkt wie eine Freilichtbühne für eine Wagneroper: Leda und der Schwan oder so ähnlich. Sehr faszinierend.
    Zum Frühstück gibt es café con leche und Kekse auf dem Hauptplatz der Stadt am Jachthafen. Es ist ganz still und friedlich hier. Um diese Zeit lassen sich nicht sehr viele Spanier blicken. Deshalb fällt es auf, wenn ein einziger Mensch, und dann noch einer mit Rucksack und Wanderstiefeln, Basecap ins Gesicht gezogen, forschen Schrittes über den einsamen Platz marschiert. Es ist Christian. Wir freuen uns wahnsinnig, einander zu sehen, und tauschen uns über die Erlebnisse der letzten Nacht aus. Christian hatte eine unschöne Begegnung mit einem Exhibitionisten. Er erzählt keine Einzelheiten, bloß, dass ihm die Lust am Campen vergangen sei und er sein Zelt bei nächster Gelegenheit nach Hause schicken werde. Es ist ihm auf Dauer sowieso zu schwer. Und schließlich gibt es ja am Weg genügend Unterkünfte. Gerd und er verabschieden sich von uns und ziehen weiter. Kein bisschen wehmütig schaut Pit ihnen hinterher. »Ich freue mich richtig, dass wir wieder unter uns sind«, sagt er. Und dann kribbelt es ihm in den Beinen, er will los — und ich auch! »Loswandern ist wie alles hinter sich lassen«, erklärt er euphorisch. Ich kann ihm da nur zustimmen. Jeder Tag liegt neu und unberührt vor uns. Es gibt keine Altlasten mitzuschleppen, nichts zu bereinigen oder zu erledigen, kein Muss, sondern Möglichkeiten, Herausforderungen und Entdeckungen. Es wird Zeit, dass wir uns auf den Weg machen.
    Doch vorher schauen wir uns noch die Kirche an. Sie liegt auf einem Felsen, der weit ins Meer hineinragt. Leider ist sie geschlossen. Aber wir sind schon begeistert von ihrem äußeren Erscheinungsbild. Ihre Sandsteinfassade ist mächtig verwittert. Wind, Salzwasser, Regen und Zeit haben den weichen Stein ausgewaschen und ihm eine ganz eigene Prägung aufgedrückt, ähnlich den Falten im Gesicht eines lebensklugen alten Mannes. Doris sagt, es müsse fantastisch sein, in der Nähe solcher alten Gebäude zu wohnen. Die hätten so viel Vergangenheit, so viele Geschichten, die sie erzählen könnten. Daneben müssten sich doch die Probleme, Nöte, Ängste und Sorgen unseres Alltags relativieren. Wir gehen bis zu der Felsenmauer, die den Kirchplatz vom Meer trennt, und blicken in die brodelnde See hinunter. Schulter an Schulter stehen wir zwei Freundinnen beieinander und philosophieren über die einzigartigen Farben des Wassers, und Pit erklärt uns, wie genau er jeden Bissen in seinen Apfel plant. Merkwürdig, welche Gespräche sich auf diesem Weg ergeben.
    Am Strand entlang gehen wir zurück Richtung Camino. Bei jedem Schritt schmerzt mein Knie, sodass ich mich schweren Herzens entschließe, auch heute wieder mit dem Bus zu fahren. Doris und Pit begleiten mich bis zur Bushaltestelle vor der Stierkampfarena. Heulend vor Enttäuschung sinke ich auf eine Bank. »Soll ich mit dir fahren?«, bietet sich Doris an. Und auch Pit ist bereit, bei mir zu bleiben. Aber ich will ihnen nicht den Tag verderben. Warum sollen sie auf ihre Wanderung verzichten, bloß weil ich Probleme habe? Tröstend nehmen Doris und Pit mich in die Arme. Der Seele tut das gut. Das Knie jedoch lässt sich nicht im Mindesten davon beeindrucken. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als niedergeschlagen hinter den beiden herzublicken. Von Tränen verquollen klettere ich in den Bus. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Aber die Idee des Weges war ja auch, sich auf unvorhergesehene Situationen einzustellen, mit ihnen umzugehen und das Beste daraus zu machen. Ich krame meine Minibibel aus dem Rucksack und schlage die Wallfahrtspsalmen auf. Es ist nicht leicht, die kleine Schrift in dem schaukelnden Bus zu entziffern, und im Hinblick auf meinen Magen vielleicht auch nicht sehr vernünftig. Aber es tut mir gut, wie die Worte des Psalms 123 meine Blickrichtung neu justieren: Ich hebe meine Augen auf zu dir, der du im Himmel wohnst... Genau das werde ich jetzt mal tun. Weiter unten im Psalm steht noch: Sei uns gnädig, Herr, sei uns gnädig. Ich habe keine Vorstellung davon, wie Gnade in dieser konkreten Situation aussehen könnte — vielleicht, dass mein Knie in Ordnung kommt, was ziemlich unwahrscheinlich ist und meinen Glauben an seine Grenze bringt. Vielleicht denkt Gott sich aber auch etwas ganz anderes aus. Egal, Hauptsache, ich lasse mir von meinem Knie nicht den Weg versauen, auf den ich mich so lange gefreut

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