Und was, wenn ich mitkomme?
Strandtag, Urlaub für die Füße. Wir laufen nur über Sand und kommen zu einem Hügel, der sich zwischen zwei Stränden erhebt und von Ginster und niedrigem, bunt blühendem Gebüsch überwuchert ist. Enge Pfade laufen im Zickzack über ihn hinweg. Es ist egal, welchen wir einschlagen. Jeder führt nach oben, von wo aus wir weit über das Meer und mehrere Strände blicken können. »Hier lasst uns Hütten bauen«, denke ich. Gerd breitet die Arme aus und ruft: »Gigantisch!« und »Bärenstark!« Wir grinsen, denn diese zwei Worte scheinen die wichtigsten in seinem Wortschatz zu sein. Jedenfalls tauchen sie in beinahe jedem seiner Sätze auf. Beinahe alles, was Gerd begegnet, scheint nach diesen Superlativen zu verlangen. Na, er ist eben sehr begeisterungsfähig. Genauso wie wir. Nur, dass er es auf seine ganz und gar eigene, sehr liebenswerte und charmante Art ausdrückt.
Als wir uns sattgesehen haben, müssen wir natürlich wieder herunter, und das geht überraschenderweise besser, als ich befürchtet habe. Ich stolpere zwar als Letzte hinter den anderen her, doch das ist völlig in Ordnung. Gerd und Doris hopsen schon zwischen riesigen Felsen herum, die hier überall bizarr und schwarz aus dem Wasser ragen, und die weiße Gischt bildet einen fantastischen und wilden Kontrast dazu. »Ist das nicht gigantisch?«, schreit Gerd, und dann: »Alle Mann Schuhe aus.« Wir lassen uns nicht lange bitten. Die Männer entledigen sich noch ihrer T-Shirts, nur die Sonnenhüte müssen bleiben. Pit trägt einen mit riesiger Krempe, die seine Ohren, seinen Nacken und seine Schultern beschattet. Gut so, denn die Sonne ist ziemlich aggressiv. Eine dicke Schicht Sonnencreme ist absolutes Muss. Gegenseitig reiben wir uns Nacken und Arme ein.
Jetzt laufen wir paarweise. Pit und ich genießen unser Ungestörtsein und rollen im Gespräch noch einmal meine Frustsituation von eben auf. Wie wohltuend, die Geschehnisse ohne große Zeitverzögerung miteinander zu besprechen und die schwierige Situation ohne Aufschub zu klären! Am Ende stimmen wir überein: Wir verstehen einander und sind uns wahre Freunde und — weit darüber hinaus — auch Geliebte. Wir sind so froh, einander zu haben und uns so nahe zu sein. Zu Hause überlagert der Alltag oft unsere Beziehung, sodass wir uns regelrecht aus den Augen verloren haben. Hier fangen wir langsam an, uns und die Begeisterung der ersten Verliebtheit wiederzufinden. Ob wir diese Gefühle in unser Leben in Deutschland retten können?
Gerd und Doris zockeln eifrig miteinander redend hinter uns her. Heute sind wir mehr als 16 Kilometer nur am Meer entlanggelaufen, und am Ende dieses letzten Strandes kommen wir direkt an unserem Etappenziel Noja an. Um kurz vor sieben erreichen wir die Touristen-Information, gerade noch rechtzeitig, bevor sie schließt, holen uns wie üblich einen Stadtplan und lassen uns ein günstiges Hostal empfehlen, das sich für uns als richtige »Luxusunterkunft« erweist. Für Pit und mich gibt es ein Ehebett, und Doris kann sich eines von den zwei Einzelbetten in unserem Zimmer aussuchen. Das andere dient als Ablage für unser Gepäck. Das Größte aber ist: Wir haben ein eigenes Bad nur für uns drei allein. Gerd hat ein Zimmer für sich im Stockwerk unter uns.
Nachdem wir uns eingerichtet haben, treffen wir uns im Foyer, kaufen fürs Abendessen ein und picknicken in einer kleinen Grünanlage. Eigentlich wollten wir noch mal zurück an den Strand und eine Runde schwimmen gehen. Aber mittlerweile ist es spät geworden, und frisch geduscht, wie wir sind, hat keiner mehr Lust auf Meerwasser und Salz auf der Haut. Gerd lockt uns in die Bar des Hostals, wo die Männer Whiskey und Doris und ich Grand Marnier bestellen. Dazu gibt es mal wieder Zigarillos und gute Gespräche. Wir reden über Gott und die Welt und über unsere Werte und Einstellungen, und ich bin begeistert und verblüfft zugleich, wie schnell wir an den Kern der Dinge kommen. Es tut unglaublich gut, einander wirklich zuhören und verstehen zu wollen, und das, obwohl wir uns doch eigentlich völlig egal sein könnten. Auf dem Camino werden wir ohne Umwege oder irgendwelche Konventionen mühelos vertraut miteinander und kommen Menschen nahe, die uns eben noch ganz und gar fremd waren. Ich wünschte, Beziehungen würden sich immer so unkompliziert und erfrischend gestalten.
Wir sind schon längst auf unserem Zimmer, aber ein Ende finden wir noch lange nicht. Ein bisschen beschwipst und überdreht tanzen Doris
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