Und was, wenn ich mitkomme?
Rosa, die hospitalera, im Krankenhaus liegt und deshalb diese Herberge zurzeit nicht betrieben wird. Wir entschließen uns, weiter in das dreieinhalb Kilometer entfernte Cuerres zu gehen. Aber auch dort stoßen wir nur auf ein verrammeltes hostal, und nun fängt es auch noch an zu regnen. Mein Unterleib und mein Knie schmerzen bei jedem Schritt. Doch bis zum nächsten Ort sind es noch mindestens sieben Kilometer. Der Weg ist wunderschön, Felder und Viehweiden und die von Wolken verhangenen Berge, die wie unter einem kuscheligen, dicken Federbett verborgen liegen. Aber ich bin so mit mir selbst beschäftigt, dass ich für die Landschaft um mich herum kaum noch einen Blick habe. Außerdem regnet es immer heftiger, und die Kapuze meines Regencapes schränkt das Gesichtsfeld ziemlich ein.
Um mich zu entlasten, packt Pit sich meinen Rucksack quer über seinen eigenen und benutzt den Schulterriemen als Stirnband-Tragegurt. Über alles spannt er seinen Regenschirm, denn das Regencape allein genügt nicht. Das ist schließlich nur für einen Menschen und einen Rucksack ausgelegt. Fix und fertig zockele ich hinter ihm her, während er forsch ausschreitet. Pit hat so viel Kraft, und ich bin so schwach.
Christian ist uns schon wieder weit voraus. Wir haben ihn ermutigt, keine Rücksicht auf uns zu nehmen, sondern zu sehen, dass er möglichst bald aus dem Regen herauskommt. Pit und ich laufen allein und können ungestört über unser ungleiches Kräfteverhältnis reden. Wir stellen fest, dass Vergleiche nicht besonders hilfreich sind. Jeder darf sein, wie er ist, und kann auch dazu stehen. Erstaunt stelle ich fest, dass ich wohl doch ehrgeiziger bin, als ich immer gedacht habe. Mir kommt der Satz in den Sinn: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Aber wird ein Elefant, auch wenn er sich noch so sehr bemüht, jemals fliegen können? Jetzt denke ich: Die Überzeugung, dass Wille und Weg ein und dasselbe sind, ist eine Lüge — und eine unbarmherzige noch dazu. So ein Grundsatz führt nur dazu, dass ich über mich hinweggehe und niemals mit mir zufrieden sein kann, weil ich begrenzt bin und Mühe habe, mich und die Situation einfach mal anzunehmen.
Pit sagt, dass es ihn stresst, wenn er nichts dazu beitragen kann, dass es mir bessergeht — und das wiederum stresst mich, weil ich dann erst recht nicht eingestehen kann, wie ich mich wirklich fühle. Schließlich könnte das ja ihn stressen. Aber dann geht es mir weiter schlecht, und das wiederum führt dazu, dass Pit sich unter Druck fühlt. So schaukeln wir uns gegenseitig runter. Heute habe ich meine Befindlichkeit mal klar zum Ausdruck gebracht, und Pit hat mir geholfen und getan, was er konnte, ohne dass damit alles gleich bestens sein musste. Meine Schmerzen waren nach wie vor da. Trotzdem ging es mir zumindest emotional besser, weil wir endlich diese blöde Spirale von gegenseitigem Druck durchbrechen konnten. Das war echt toll!
Im Regen kommen wir schließlich in Ribadesella an. Leider hat die Touri-Info geschlossen, und auf eine 1000-Mann-Übernachtung in einer albergue habe ich keine Lust mehr. Also frage ich im erstbesten hostal nach Zimmer und Preis: 33 Euro für uns beide. Die Pilgerherberge hätte laut Wanderführer 14 Euro pro Person gekostet. Wir investieren die Differenz von 5 Euro zusätzlich mit leichtem Herzen und checken ein.
Das Zimmer ist eine Wucht: Wir haben eine Heizung, über der wir über Nacht unsere Socken trocknen können, und eine Badewanne, die ich ausgiebig nutze. Pit und ich sind endlich einmal ganz allein — nach drei Wochen das erste Mal — und genießen es sehr. Dicht aneinandergekuschelt liegen wir im frisch bezogenen Bett, schauen Fußball im Fernsehen, knabbern unsere letzten Vorräte auf und fühlen uns rundum behaglich.
Aus unseren angepeilten 20 Kilometern für diesen Tag sind nun über 30 geworden — unter diesen Bedingungen eine stramme Leistung. Ich bin ziemlich stolz auf Pit — und auf mich auch. Heute war mal wieder ein toller Tag, trotz allem. Oder vielleicht deswegen?
Aus Pits Tagebuch:
Wir brechen um Viertel nach acht auf. Der Himmel ist verhangen. Es ist schwül und trüb. Eva hat Probleme: immer noch der Bauch. Wir gehen langsam, aber stetig voran. Wir haben ja Zeit. Eva ist tapfer. Sie hält eine Menge aus.
In Póo gönnen wir uns einen café con leche grande für 1,35 Euro, lecker. So ein Kaffee ist viel mehr als bloß ein Getränk, er ist eine moralische Aufrüstung. Uns geht es gleich viel besser.
Wir laufen
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