Und was, wenn ich mitkomme?
und beobachten das Treiben. Wir haben Sehnsucht nach einem bekannten Gesicht, nach jemandem, mit dem wir die eigenen Erlebnisse teilen können, damit sie greifbar bleiben. Plötzlich ist der Weg weit weg, wie eine ferne Fantasie, unwirklich und verschwommen. Ich habe Angst, etwas Wesentliches zu verlieren, ohne zu wissen, was das sein könnte.
Einige Säulen weiter kauern zwei Pilger, ein Mann und eine Frau, offensichtlich Weggefährten. Die Frau wirkt erschöpft und bewegt. Plötzlich springt sie auf. »Da«, ruft sie, »der Mann dort... dem bin ich unterwegs schon einmal begegnet!« Jetzt hat der andere auch sie entdeckt. Sie laufen aufeinander zu und Sekunden später liegen sie sich in den Armen. Die Frau weint und verschwindet dabei ganz an der Brust des Mannes, der sie fest an sich drückt und mit seinen Händen immer wieder über ihren Rücken streicht. Als die Frau sich schließlich von ihm löst und zu ihrem Begleiter, der ruhig an der Säule auf sie gewartet hat, zurückkehrt, sagt sie, dass sie nicht einmal den Namen dieses fremden Pilgers kennt.
Für mich ist diese kleine Beobachtung ein Sinnbild: Offensichtlich kommt es nicht darauf an, was und wie viel man voneinander weiß, sondern welches Erleben man miteinander geteilt hat. Ich habe mit so vielen Menschen mein Leben verbracht, aber so wenig wirklich mit ihnen geteilt. Mit Pit allerdings habe ich diesen Weg geteilt, diese Wochen voll Freude und Frust, voll Schönheit und Schmerz, und jetzt sitzen wir hier in der Sonne, zusammen in Santiago. Ob das ausreicht: zusammen zu sein und auch zu bleiben — trotz allem?
Mit Moni und Pierre treffen wir uns zum Mittagessen. Es gibt Langusten, Fisch und Muscheln, zum Nachtisch Schokotorte und einen großen, traurigen Abschied. Pit und ich schlendern satt, müde und auch ein bisschen verloren zurück durch die Stadt. Leider hat die Touri-Info geschlossen, sodass wir den morgigen Tag nicht planen können. Wir haben festgestellt, dass vorausschauende Planung viel mehr Gelegenheiten schafft, sofern man bereit ist, flexibel auf die unterschiedlichen Möglichkeiten zu reagieren. Ohne Planung dagegen ist man den Gegebenheiten ausgeliefert: Plötzlich steckt man in einer Situation, die man nicht selbst herbeigeführt oder gestaltet hat und deshalb irgendwie überstehen muss. Und im Muss ist eine freie Entscheidung nicht möglich. Ich wünsche mir, vom »ich muss« zum »ich will«, vom »ich brauche« zum »ich hätte gerne« zu gelangen, für mich selbst und auch für meine Beziehung. Und was bedeutet das für meine Ehe? Vielleicht, dass ich sie nicht aufrechterhalten muss, es aber will? Nicht, weil wir einander brauchen, sondern weil wir es einander wert sind, aus Liebe? »Ich will« würde dann heißen, »Ja« zu sagen, auch wenn es schwierig wird, auch wenn mich manches ärgert oder schmerzt und ich mich durch Situationen beißen muss, die ich lieber vermieden hätte. Vielleicht heißt es, sich gerade diesen Situationen verantwortlich zu stellen und nicht darauf zu warten, dass der andere für die eigenen guten Gefühle sorgt. Vielleicht heißt es auch, sich und den anderen anzunehmen, wie man selbst und wie der andere ist, und einen Schatz darin zu entdecken. Wäre es möglich, selbst zu wachsen, ohne den anderen verändern zu wollen? Eine vielleicht unüberwindliche Herausforderung, aber immerhin eine ganz und gar neue Motivation. Wenn es mir gelingt, aus diesem Antrieb heraus zu handeln, besser noch: wenn uns beiden das miteinander gelingt, ob dann endlich etwas gut werden kann?
Das Glück besteht nicht darin, dass du tun kannst, was du willst, sondern darin, dass du immer willst, was du tust.
LEO TOLSTOI
42. TAG SANTIAGO — FINISTERRE
Wird es noch jemals gut für uns werden?
Wir sitzen im Bus nach Finisterre, links von uns der Atlantik, rechts Berge, die mit Felsbrocken übersät sind wie von riesiger Hand hingewürfelt, dazwischen winzige Orte mit Sandstränden.
Ich lehne meine Stirn an die kühle Fensterscheibe. Draußen geht trüber Regen nieder. Wie gerne wäre ich diesen Weg gelaufen! Dass ich es nicht tue, erlebe ich wie eine Niederlage. Die wanderfreie Zeit in Santiago hat längst nicht ausgereicht, um Kraft zu gewinnen, weder um zu laufen noch um eine eigene Entscheidung zu treffen. Was für ein schrecklicher Gedanke, dazu vielleicht gar nicht fähig zu sein. Vor Hilflosigkeit, Enttäuschung und Trauer schießen mir schon wieder Tränen in die Augen. Ich kann nicht aufhören zu weinen. Und Pit
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