Und was, wenn ich mitkomme?
kann nur schlecht in Finisterre sein, ohne wenigstens einmal zum Leuchtturm zu wandern. Wir rüsten uns also aus mit ein paar Nüssen und Mandarinen, unseren Thermositzkissen und den unvermeidlichen Regenschirmen. Doch aus dem ca. zweieinhalb Kilometer langen Weg wird eine kleine Wald- und Wiesenwanderung in 240 Metern Höhe. So war das nicht geplant. Aber warum mussten wir auch unbedingt von der vorgegebenen Straße abweichen und anstatt hübsch brav auf dem leichten Weg weiterzuspazieren, den Fußpfad zwischen knorrigen Bäumen und blumenüberwuchertem Geröll einschlagen? Wir scheinen beide nicht viel vom Bravsein zu halten, so, als könnten wir mit dem, was und wie es ist, nicht zufrieden sein. Vielleicht ist es aber auch bloß die Freude daran, Neues auszuprobieren und zu entdecken. Und könnte das nicht ein Zeichen dafür sein, dass wir uns allmählich erholen und ein bisschen Mut und Zuversicht zurückgewinnen? Ich will es jedenfalls mal so auslegen, zumal wir mit einem herrlichen Ausblick belohnt werden.
Wir wandern über eine baumlose Hochebene, die den Blick nach allen Seiten frei lässt: Vor uns ein Teppich von Glockenblumen, Schafgarbe und wilder Kamille, über uns Himmel, so weit das Auge reicht, sodass man sich fühlt wie der letzte Mensch auf der Welt, oder wie der erste. Zur Linken erstreckt sich in unabsehbarer Länge die Küste, zur Rechten nichts als die Weite des Atlantiks. Es ist atemberaubend schön, obwohl die Erde dampft und die Luft schwer und feucht ist. Am Horizont bauschen sich dunkle Wolken, aber im Augenblick regnet es nicht. Wir beeilen uns trotzdem.
Der steile Aufstieg ist uns nicht gut bekommen. Pits Knöchel ist angeschwollen wie ein Ballon, und auch in mein Knie schneidet es wie mit tausend Säbeln. Aber es nützt nichts, wir müssen wieder hinunter. Die Landschaft ist so schön, dass wir für den Augenblick unsere Schmerzen vergessen. Steil fallen mit wilden Blumen übersäte Felsen zum Meer hinab, das so tiefblau ist, dass wir es kaum fassen können. An manchen Stellen wechselt die Farbe von türkis in smaragdgrün. Da, wo der Meeresboden sandig ist, bilden sich helle, fast weiße Ränder, ein Farbenspiel, das so unglaublich ist, dass es auf jedem Gemälde kitschig wirken würde. Davor hebt sich an der Spitze der Halbinsel weiß der Leuchtturm ab. Er steht tiefer, als ich es von einem Leuchtturm erwartet habe, und ist umgeben von mannshohem Geröll, durch das wir hindurchklettern, um uns schließlich an einem windgeschützten Plätzchen niederzulassen.
Schweigend essen wir unsere Mandarinen und knabbern unsere letzten Nüsse. Mir kommt das vor wie eine symbolische Handlung: Bei unserer ersten Rast kurz hinter Irun in Guadalupe — ist das nicht schon Ewigkeiten her? — gab es gesalzene Nüsse und nun, bei unserer vielleicht letzten Rast, wieder. Pit wartet auf andere symbolische Handlungen. In sein Tagebuch schreibt er:
Kleine Feuerstellen, Steine, zwischen denen Holzkohle liegt und kalte Asche, Kreuze und einige Pilger sind zu sehen. Aber niemand schert sich den Kopf, verbrennt seine Sachen oder springt nackt in den Atlantik. Ich bin enttäuscht...
Wir rauchen unsere letzten Zigarillos und versuchen, die Packung zu verbrennen, was nicht funktioniert. Macht nichts. Wir versuchen es auch nicht mit unseren Schuhen, so wie man es vielen anderen Pilgern nachsagt, die das Ende der Welt zu Fuß erreicht haben. Aber schließlich haben wir diese letzte Strecke nicht zu Fuß zurückgelegt und wer weiß, vielleicht brauchen wir unsere Wanderstiefel noch?
Gegen drei Uhr erreichen wir wieder den Ort, kehren in eine Bar ein und bestellen menu del dia. Es fängt wieder an zu regnen. Zurück im hostal legen wir uns sofort ins Bett. Nur zum Abendessen auf dem Balkon stehen wir noch einmal auf. Wir genießen den Blick auf Meer, Hafen und Küste und überlegen, wie es weitergehen kann. Wir haben noch zwei Wochen Zeit bis zu unserem Rückflug. Am liebsten würden wir noch wandern, unterwegs sein... Keiner von uns beiden hat den Eindruck, schon da angekommen zu sein, wo er hinwollte. Wir spinnen Pläne: Wir könnten von Finisterre nach Muxía laufen, von dort den Bus nach La Coruña nehmen und dann den Camino Inglés bis Santiago wandern. Vielleicht wäre das eine neue Chance? Aber wir haben keinen Wanderführer für diese Strecke und auch sonst keine Informationen. Wir wissen nicht, was auf uns zukommt. Das Risiko ist groß. Zudem fühlen wir uns immer noch angeschlagen, und das Wetter ist
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