Und was, wenn ich mitkomme?
Glas. Vielleicht ein Zeichen dafür, dass es morgen schönes Wetter gibt.
In der Herberge ist inzwischen ein weiterer Wanderer eingetroffen: Christoph aus der Schweiz, der aber in Madrid lebt und arbeitet. Zurzeit hat er Urlaub, den er auf dem Camino Inglés verbringt. Leider hat er nicht viel Zeit und muss sich sputen. Heute ist er in einem Rutsch von Ferrol bis hierher gewandert. Sonntag will er in Santiago sein. Dabei haben wir schon Donnerstag. Aber Pit und ich können uns Zeit lassen. Unser Rückflug nach Deutschland geht erst morgen in einer Woche...
53. TAG MINO — BRUMA
54. TAG BRUMA
Gestern blieb keine Zeit, um unsere Erlebnisse festzuhalten. Und das kam so:
Wir sind erst gegen halb zehn aufgebrochen. Und warum hätten wir uns auch hetzen sollen? Bis zu unserem Etappenziel Leiro waren es nur 22 Kilometer, keine Strecke, für die wir den ganzen Tag brauchen würden. Aber es kam wieder einmal alles anders als geplant.
Zuerst liefen wir anstelle des markierten Jakobsweges am Strand entlang, was nur wegen der Ebbe möglich war. Bei Flut reicht das Wasser bis an die meterhohen Felsen, die die Gegend hier vom Meer abschirmen. Der Sand war herrlich kühl und feucht und übersät von lauter glänzenden »Kunstwerken«: bunten Muscheln und fein gemaserten Steinen und Perlmuttstückchen, die in der Sonne funkelten wie Edelsteine. Ich wäre am liebsten den ganzen Tag hiergeblieben — zumal dies voraussichtlich die letzte Möglichkeit war, am Meer zu sein, bevor der Camino ins Landesinnere führt. Wie gerne hätte ich noch die vielen Strandkostbarkeiten bestaunt, gesammelt und wieder dem Meer zurückgegeben! Aber die hereinbrechende Flut hätte uns sicher bald vertrieben, und außerdem war ich leider wieder einmal nicht in der Lage, meinen Wunsch klar und deutlich zu äußern. Warum habe ich immer noch Angst vor einem »Nein«? Habe ich so wenig gelernt in den vergangenen Wochen? Dabei ist doch so vieles neu geworden. Wir haben Neues erkannt und entdeckt, an uns selbst und am anderen, und neue Einsichten gewonnen, die jetzt umgesetzt werden wollen. Ich merke, wie sehr mir noch die Übung fehlt.
Außerdem hat schon wieder meine Menstruation eingesetzt. Meine Hormone spielen verrückt und bringen mich völlig durcheinander. Ich hätte heulen können vor Enttäuschung und Kraftlosigkeit. Nichts, was bei der Umsetzung noch so guter Erkenntnisse hilfreich gewesen wäre. Letztlich habe ich es mit meinem Wunsch, noch in Miño zu bleiben, nur bis zu ein paar vagen Andeutungen gebracht, die Pit aber leider nicht verstanden, geschweige denn aufgegriffen hat. Stattdessen fand er für mich eine echte Jakobsmuschel. Was für eine Überraschung — denn diese Muscheln sind in Landnähe selten — und was für eine Ermutigung und Freude! Kilometerweit hielt ich die Muschel in meiner Hand, bevor ich sie im Rucksack verstaute.
Am Ende der Bucht, kurz vor der Wildschweinbrücke, der Ponte de Porco, die sich in Spitzbögen über die Mündung des Flusses Lambre spannt, stießen wir auf ein Traumgrundstück mit Meerblick und wunderschönem alten Baumbestand. Die Wiese wurde von einer Mauer eingefasst, in die zwei schmiedeeiserne Tore eingelassen waren. Genau in der Mitte zwischen den Toren erhob sich ein Eukalyptusbaum mit einem Stammumfang von mindestens drei Metern. Platanen bildeten von diesem Mittelpunkt aus Alleen, die sich zu den Grenzen des Grundstückes hin immer mehr verjüngten, sodass die Baumreihen wirkten, als führten sie in die Unendlichkeit, so, als würde man in zwei sich gegenüberstehende Spiegel blicken.
»Das kaufen wir«, flüsterte Pit ergriffen. Ich wusste, dass wir das nicht tun würden. Aber die Vorstellung war verlockend, und sofort stellte ich mir das Häuschen vor, das sich zwischen diese Bäume schmiegen würde, mitten in Zeit und Unendlichkeit hinein, in einem Garten, in dem alles möglich zu sein schien, vielleicht sogar die Umsetzung unserer neu gewonnenen Einsichten.
Kurz hinter der Brücke holte uns Christoph ein, der Madrider Schweizer, der mit uns in der Herberge in Miño übernachtet hatte. Sofort entspann sich zwischen uns ein sehr intensives Gespräch, das uns wohltuend von dem anstrengenden Auf und Ab des Weges und mich von meinen Unterleibsbeschwerden ablenkte. Und plötzlich waren die irgendwie verschwunden, ich weiß nicht, wohin. Auch Pit tat nichts weh, weder Fuß noch Gelenke oder Sehnen. Und so schritten wir zu dritt munter und in flottem Tempo aus, obwohl der Weg noch steiler als
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