Und was wirst du, wenn ich gross bin
der Lektüre sowie allen damit zusammenhängenden Arbeiten erfolgreich verweigert. Noch heute bin ich der Überzeugung, dass insbesondere Gedichtinterpretationen mittels Stilanalyse so sind, als würde man das Gesicht einer schönen Frau auf dem OPTisch sezieren, um herauszufinden, warum sie schön ist: Selbst wenn man zu einem Ergebnis gelangt, hat man die Schönheit zerstört. Natürlich hatte der dreimonatige Unterrichtsboykott eine taktische Meisterleistung erfordert, aber nun war es Zeit, die Früchte zu ernten. Was für ein herrliches Bild. Aufbruch ins Neue, Überquerung des Brenners aus eigener Kraft, und die Mutter aller klassischen Werke im Gepäck.
Gut, die Überquerung des Brenners haben ich und der Freund, mit dem ich unterwegs war, ein wenig vereinfacht, indem wir die Fahrräder per Zug zum Brenner geschickt haben, und uns - ebenfalls per Zug - hinterher. Trotzdem habe ich nach der ersten Etappe meinen ersten Kreislaufzusammenbruch erlitten. Das lag wohl an der Reisevorbereitung in Biergärten, und schloss eine Karriere als Tour-de-France-Fahrer aus. Im Nachhinein eine gute Entscheidung, ich glaube nämlich, ich vertrage kein Epo.
Mit letzter Kraft erreichten wir nach drei Tagen den Gardasee, ungefähr zu dem Zeitpunkt, als Faust den Pakt mit Mephisto schließt. Ich war entsetzt über meinen körperlichen Verfall.
Schließlich war ich einige Jahre zuvor, mit vierzehn, mit meinem besten Freund, dem angehenden Philosophen, schon einmal über den Brenner geradelt, damals sogar ohne Bahn! Unsere eigentliche Absicht war gewesen, Afrika von Nord nach Süd zu durchqueren, aber dieser Plan scheiterte, weil unsere Eltern zwar ausnahmsweise einer Fahrt nach Italien zustimmten, einer Afrikadurchquerung aber nicht. Zum anderen war Mauretanien laut Reiseführern vom Bürgerkrieg noch vermint und eine Durchquerung mit dem Fahrrad somit unmöglich. Wir verschoben die Expedition also auf unsere Volljährigkeit und setzten als Zwischenziel die Toskana fest.
Zwei Tage nach Aufbruch vom erradelten Brenner kamen wir damals am frühen Abend am Gardasee an. Da wir weder ein Zelt noch Isomatten noch Geld hatten, nur unsere Schlafsäcke, suchten wir wie jeden Abend einen halbwegs ebenerdigen Schlafplatz, der nicht allzu leicht einzusehen war. Mein bester Freund wurde fündig am Rande eines Weinberges, an dem schon Trauben zu erkennen waren. Ich war nicht überzeugt. Mehrfach mahnte ich, dass in Italien viel zu viele Bauern Flinten besaßen und nicht gut auf Fruchtdiebe und Landstreicher zu sprechen waren. Und wir sahen landstreichenden Fruchtdieben täuschend ähnlich, vor allem bei Dämmerung. Mein bester Freund erklärte, das sei wie Schwarzfahren, also nichts wirklich Schlimmes, und ich versuchte so zu tun, als wäre ich ein versierter Schwarzfahrer und trotzdem nicht überzeugt. Nach einer halben Stunde angeregter Diskussion mit heftigen Beschimpfungen brachen wir voneinander entnervt schließlich auf, um ein besseres Lager zu finden. Ein bis zwei Plätze machten auch einen ganz guten Eindruck, doch nachdem wir einmal auf den Geschmack gekommen waren, an allem rumzumäkeln und wenn schon einen Platz, dann den idealen Platz zu finden, waren wir uns zwar immer noch grundsätzlich uneinig, aber wenigstens darin beieinander, so lange zu suchen, bis das optimale Lager gefunden war. So wie ich Jahre später an gleicher Stelle den idealen Berufsweg finden und nicht das Erstbeste ängstlich beim Schopfe packen wollte.
Unsere Diskussionen um infrage kommende Schlafplätze liefen immer gleich ab:
»Hier könnte es doch gehen«, sagte einer von uns.
Darauf der andere:
»Hier ist es aber …« (Hier kann man beliebige Begriffe einsetzen wie »zu uneben«, »zu laut«, »nicht bequem«, »schon morgens gleich total sonnig«, »voll schattig« usw.)
Das wurde dann wieder diskutiert, bis einer von uns sagte:
»Da war es am Weinberg aber besser.«
Daraufhin fuhren wir wortlos weiter.
Dummerweise kommt entlang des Gardasees irgendwann eine sehr lange Strecke, an der sich auf der einen Seite der Straße Berg und Fels und entlang der anderen Seite Häuser oder ebenfalls Fels (im Sinne von: steiler Fels) befinden. Es gibt nicht nur keine Wiesen und keine sanften Moosmatten unter lauschigen Bäumen, sondern auch keine Weinbergsränder, nicht mal gepflügte Äcker. Wir begannen langsam, aber stetig, mit jedem auch nur annähernd benutzbaren Liegeplatz unsere Ansprüche Stück für Stück herunter zu schrauben.
Mittlerweile war es
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