Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Und was wirst du, wenn ich gross bin

Und was wirst du, wenn ich gross bin

Titel: Und was wirst du, wenn ich gross bin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Kemmler
Vom Netzwerk:
Nachsitzen in Form von »Schulbibliotheksbücher mit Schutzeinbänden versehen« verdonnert. Noch heute hält mein Schutzeinband von Gustav Schwabs Sagen des klassischen Altertums tadellos, und ich lese gerne darin. Ich hoffe, ich komme irgendwann mal dazu, es zurückzugeben, aber man nimmt sich ja immer so viel vor, und dann fehlt die Zeit.
    Zeit, das ist das Stichwort zu unserem Plan. In unserem Pausenhof stand dank der Vorgabe, dass beim Bau einer Schule nicht nur Mörtel und Zement, sondern auch Kunst verbaut werden muss, eine Sonnenuhr, circa eineinhalb Meter hoch und ein Meter im Durchmesser. Sie war aus Fertigbeton und grau wie der gekieste Pausenhof oder eine Geografiestunde im November. Der Beschluss war, diese Sonnenuhr nachts und ganz heimlich rosa anzumalen. In einem knalligen, kräftigen Rosa, mitten im grauen Pausenhof. Und dazu noch einen Zettel anzubringen mit der Aufschrift:
    »Mach es wie die Sonnenuhr - zähl die rosa Stunden nur.«
    Von heutiger Warte aus betrachtet, musste wohl doch sehr viel mehr Batida de Coco im Spiel gewesen sein, um das Ganze für eine absolut außergewöhnliche und nie dagewesene Aktion zu halten. Aber es waren ja auch andere Zeiten, und Ort des Geschehens war nicht Berlin.
    Wir suchten den richtigen Tag aus, einen, an dem wir abends daheim sein würden, vor elterlichen Zeugen, um dann mit Alibi heimlich loszuziehen. Chrysipp organisierte die Farbe, Diomedes einen Pinsel, und der Text für die Aufschrift war von mir. Und dann war es so weit. Um kurz nach sechs klingelte das Telefon. Diomedes Stimme zitterte leicht vor Vorfreude:
    »Heute Nacht, wir treffen uns um ein Uhr an der U-Bahn-Haltestelle.«
    »Aber da geht keine U-Bahn mehr«, warf ich ein.
    »Stimmt. U-Bahn wär aber sowieso zu auffällig. Wir nehmen die Fahrräder.«
    »Gute Idee«, stimmte ich zu und warnte: »Aber wir sollten eine U-Bahn-Haltestelle weiter nehmen, schon wegen der Sache mit den Zeigestöcken.«
    »Du hast Recht«, sagte Diomedes.
    Er legte auf, um Chrysipp zu benachrichtigen, und ich stellte den Wecker auf Mitternacht, oder auf »Null-Nullhundert«, wie man bei militärisch präzisen Operationen zu sagen pflegt. Bis Nullachthundert war ich nervös, und um halb Elfhundert schlief ich ein.
    Es muss was am Wecker gewesen sein, sonst war er immer recht zuverlässig. Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, ihn wieder ausgeschaltet zu haben. Ich erwachte morgens gegen Nullsechshundert. Um kurz vor Nullsiebenhundert fiel mir ein, dass ich ja eine Verabredung mit der Anarchie gehabt hatte.
    In der Schule traf ich Chrysipp und Diomedes. Die beiden hatten nicht verschlafen. Die Sonnenuhr war aber immer noch grau. Das Problem war, dass die beiden benachbarten U-Bahn-Stationen »Neuperlach Süd« und »Neuperlach Zentrum« heißen. Es gab wohl ein Missverständnis. Zwischen Nulleinhundert und halb Nullzweihundert stand Chrysipp mit einem Eimer rosa Farbe in Neuperlach Süd, Diomedes mit zwei Pinseln in Neuperlach Zentrum, und ich schlief den Schlaf des unfreiwilligen Gerechten. Und falls sich jemand bemüßigt fühlt, hier einzuwenden, man hätte ja kurz mal kommunizieren können, dem sei gesagt, dass es zu jener Zeit noch keine Handys gab, und zu Hause anrufen ging wegen des Elternalibis nicht. Eine Zwickmühle. Kein Oceans Eleven . Vorerst.
    Nachdem wir mit den nötigen gegenseitigen Schuldzuweisungen fertig waren, beschlossen wir, einen neuen Termin zu finden.
    Nun trug es sich zu, dass Chrysipp und ich einige Tage später auf einem Konzert waren, Udo Lindenberg präsentierte sein damaliges Spätwerk, das aus heutiger Sicht eher als spätes Frühwerk anzusiedeln ist.
    Nach dem Konzert redeten wir mit einer Schulfreundin und ihrer Schwester, die wir getroffen hatten und aus Gründen, die noch folgen, Justizia & Justizia nennen wollen. Spontan beschlossen Chrysipp und ich, die Stimmung zu nutzen und trotz zu erwartender Proteste von Diomedes die Tat zu begehen. Ich war stolz. Verbrecher sein ist eine gute Sache, wenn die Sache eine gute ist. Wie bei Robin Hood, wenn das Geld an die Armen geht, oder wie in unserem Fall, wenn die Freude an der Obrigkeitsdemontage durch farbliche Oberflächenveränderung von geknechteten Seelen geteilt wird. Ich sah mich schon als derjenige verehrt, der dem Rektor von Nottingham eine Lektion erteilt hat. Ausgerechnet ich, wie schön, da ich mich doch sonst schon beim Schwarzfahren so fühlte, als wäre ich Jack the Ripper. Auch hinsichtlich dessen, was nach der Schule

Weitere Kostenlose Bücher