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Und was wirst du, wenn ich gross bin

Und was wirst du, wenn ich gross bin

Titel: Und was wirst du, wenn ich gross bin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Kemmler
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der Verweigerung wollte ich mich nach dem Abi-Urlaub befassen, fest stand momentan nur:
    Kriegsdienst war für einen potenziellen Menschenrechtler und ehemaligen Pazifismus-Aktivisten wie mich keine Alternative. Das käme nämlich einem Pakt mit dem Teufel gleich.
     

10
     
    soldat
     
    Nachts um halb drei bei strömendem Regen und Sturmböen Motorrad zu fahren, ist sicher generell keine gute Idee. Vor allem im hügeligen Bereich zwischen Stuttgart und Ulm auf der A8. Jedes Mal, wenn ich einen Lkw überholen wollte, fühlte es sich an, als würde ich für dreißig Sekunden in eine Waschanlage eintauchen. Blindflug, ohne Instrumente. Spritzwasser, das jegliche Sicht unmöglich machte, und rechts neben mir laute Geräusche, die sogar den Gewitterregen übertönten. Ich war seit zwölf Stunden im Regen unterwegs. Als ich um halb vier ins Bett fiel, war ich Gemüse und habe am folgenden Morgen um eine ganze Stunde verschlafen.
    Der Hauptmann hat mich wegen dieses Verschlafens und sichtbarer Bartstoppeln in Tateinheit mit Unrasiertheit zu einer Woche Frühanwesenheit verdonnert. Das bedeutete, um sechs Uhr morgens da zu sein, anstatt um zwanzig vor acht. Dem Major wäre das Ganze völlig egal gewesen, aber der war in Urlaub. Also versuchte ich, mittags beim Weißbier den Spieß davon zu überzeugen, dass dieses Strafmaß doch ein wenig drakonisch sei, aber er hatte keine Lust, sich mit den Vorstellungen des Hauptmanns von preußischer Disziplin auseinanderzusetzen. Nicht zum ersten Mal zog ich mehr als ernsthaft in Zweifel, dass die Entscheidung, sich für zwei Jahre bei der Bundeswehr zu verpflichten, richtig gewesen war. Mal ganz abgesehen von der Entscheidung, überhaupt zum Bund zu gehen und nicht zu verweigern.
    Der Großteil meiner Freunde hatte verweigert und genoss das süße Leben als Rettungssanitäter. Nicht nur, dass sie sich mehrfach abends beim gemeinsamen Bier zur Freude aller Infusionen legten, um »zu üben«, auch die Geschichten, die sie erzählten, waren um so vieles spektakulärer als meine. Gerettete Leben, fürchterliche Unfälle, und mit Blaulicht über Ampeln fahren. Da ging es um Leben und Tod, statt um Weißbier und Rasur zur Sicherung der westlichen Welt gegen einen immer friedlicher vor sich hinbröselnden Ostblock. Und Afghanistan kannte man damals nur vom Kiffen.
    Meine Zivi-Freunde sind mit dem Sanka direkt vor die Olympiahalle gefahren und dann im Kittel in ein ZZ-Top-Konzert marschiert. Natürlich für lau, weil sie dem Mann am Eingang klargemacht haben, was ihm blühen würde, wenn dem ihnen anvertrauten und von ihnen erfundenen Rollstuhlfahrer auch nur das Geringste passiert. Das Ganze haben sie dann hinterher mit Bier von der Tankstelle gefeiert, welches sie selbstredend mit Blaulicht geholt hatten. Kein Wunder, dass ich mittlerweile bei zwei bis drei Mittagsweißbieren angelangt war.
    Wie war es eigentlich möglich, dass ich, ausgerechnet ich, der Anti-Establishmentierteste von allen, da gelandet war?
    Ich weiß es nicht.
    Seine Ideale verraten ist nicht etwas, wofür man sich Zeit nimmt. Nichts, wofür man sich einen Tee macht, auf einen Balkon setzt, tief durchatmet und dann sagt:
    »Ich hab’s, jetzt scheiß ich einfach mal auf alles, was ich bisher gesagt und getan habe, und mach was ganz anderes, etwas, wofür ich mich immer verachtet hätte.«
    Nein, so was geht ganz anders vor sich. Eine gewisse Übung darin, Ideale als etwas Fluktuierendes zu betrachten, ist Voraussetzung. Dann natürlich eine Prise Lethargie, Wegsehen und last but not least: Argumente. Die sind auch deshalb wichtig, weil im Gegensatz zum »ersten Mal« - sofern die Frau Stillschweigen bewahrt oder im Ausland wohnt und niemanden aus dem Freundeskreis kennt - vierundzwanzig Monate Wehrdienst einfach öffentlicher sind.
    Es war nämlich so, dass über Verbindungen, die mein Vater hatte, die Möglichkeit im Raum stand, in Sardinien stationiert zu werden, mit Italienern, Amerikanern und Deutschen, was bedeutet hätte: Ich könnte in Italien leben, mein Englisch pflegen und dabei noch mein Pizzeria-Italienisch vertiefen.
    Sicher, das hat jetzt alles nichts mit grundsätzlichen moralischen Werten zu tun, aber Italien ist wirklich sehr schön. Und Sprachen lernen ist ein hehres Ziel, ein vielleicht erwachsener Impuls auf Kosten von vielleicht doch eher jugendlichen Friedensidealen. Man muss auch erwähnen, dass der »normale« Wehrdienst schon fünfzehn Monate dauerte, der Zivildienst hingegen sogar achtzehn. Dazu

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