Und was wirst du, wenn ich gross bin
Abifeier war rauschend gewesen. Und sie hat mir gezeigt, dass man auch mit scheinbar nutzlosen Verrichtungen eine Menge ausrichten kann.
Die meisten Menschen nehmen an, man kann ersthaften Sorgen nur mit ernsthaften Gegenmaßnahmen begegnen. Gerade als Kind den Eltern gegenüber meint man, vor allem mit vernünftigen Dingen Gutes tun zu können, nicht unbedingt mit Partymachen. Doch auch Feiern kann, wie hier geschehen, Gutes bewirken.
Meine Mutter hatte in der Zeit vor meinem Abitur eine klassische »schwarze Serie«. Eine Reihe von lästigen, unschönen und unglücklichen Ereignissen in relativ kurzen Intervallen. Sie war deshalb vor der Feier derart niedergeschlagen und trübsinnig gewesen, dass sie ernsthaft bezweifelte, das Leben sei auch für fröhliche Momente geschaffen und nicht nur zur Pflichterfüllung, wie sie es von meinen Großeltern gelernt hatte. Die waren sehr pflichtorientiert im Sinne des Wirtschaftswunderdenkens und des Da-muss-man-eben-durch-wir-hattens-auch-nicht-immer-leicht«. Nun kann man argumentieren, dass das (von meiner Mutter so genannte) »Nacktarschen« meiner Großeltern, also die FKK-Wochenenden in Wohnwägen, auch nicht unbedingt die reine Pflichterfüllung ist, aber man erzählt ja den Kindern oft nicht das, was man selbst lebt, sondern das, was man meint, leben zu sollen.
Als nun meine Mutter meine Freunde und mich mit nahezu ekstatischer Freude zu den Klängen von »We Are the Champions« tanzen sah, strahlten wir wohl eine derart überzeugende Freude aus, dass sie zu der Überzeugung gelangte, das Leben sei durchaus auch dafür da, zu genießen und zu feiern. Und so wie eine Gans auf den Menschen geprägt wird, den sie nach dem Schlüpfen zuerst erblickt, so war sie ab diesem Zeitpunkt eine glühende Anhängerin von Queen und Freddy Mercury. Als Freddy Mercury starb, hat sie schwarz getragen.
Ich hätte mich damals ebenfalls gerne bei Queen persönlich bedankt, aber die Vorstellung, das wirklich zu tun, empfand ich dank meines erwachsenen Alters von achtzehn doch als reichlich naiv und außerhalb des Rahmens dessen, was man vernünftig nennt. Seltsam, dass man viele wirre Vorstellungen haben kann und sie für realistisch hält, ohne dass sie je eintreten, während andere noch absurdere Wirrheiten irgendwann wahr werden.
Die Abifeier endete mit einer aus dem Lehrerdepot von mir und Chrysipp entwendeten Flasche Champagner, die wir brüderlich teilten. Wir tranken darauf, dass es manchmal in Ordnung ist, wenn ein Verbrechen anonym bleibt, solange es den Durst stillt. Und nachdem ein Billigsekt das offizielle Festgetränk einige Stunden zuvor gewesen war, war dies eine schöne Klammer, und gleichzeitig ein Schlusspunkt, der Erwartungen für den Neubeginn weckte.
Im Nachhinein betrachtet ist das vielleicht die wichtigste Lektion meiner gesamten Schulzeit gewesen: Billigen Sekt kriegst du gestellt, Champagner musst du dir selbst organisieren.
Wohin aber jetzt? Welcher Weg war es, der Champagner, rauschende Feste und Erfüllung bereitstellen würde?
Möglichkeiten gab ja viele. Da war zum einen die kindliche Liebe zu Tieren und der Verhaltensforscherzweig. Dann gab es die Möglichkeit, generell die Wissenschaften in ein neues Zeitalter zu führen, solange nicht zu viel Mathematik und Chemie gefordert waren. Andererseits war Menschenrechtler eine schöne Sache, und Konflikte gibt es ja immer zu lösen. Auch Kunst war über die Jahre interessant geworden, zumindest seit ich in der 8. Klasse den Kunstunterricht abgelegt hatte. Rockstar durfte natürlich nicht fehlen, auch Gitarrist, ich musste nur Gitarre dafür lernen. Nachdem sich einige Liebesbriefe und Gedichte so gut gemacht hatten, dass ich mittlerweile für Freunde ghostwritete, kam auch eine Karriere als Dichter und Denker in Betracht. Und Profisport war immer noch eine Option, auch wenn ich nicht wusste, welche.
So eine Entscheidung fürs Leben darf selbstverständlich nicht über den Zaun gebrochen, sondern muss gründlich durchdacht werden. Während die Mehrheit der Abiturkollegen schon genaue Pläne in der Schublade hatte, würde ich einfach im Sommerurlaub den richtigen Weg finden. Eine Fahrradtour nach Sizilien stand auf dem Plan, und ich hatte die ideale Reiselektüre dabei: Goethes Faust , das Werk an sich. Eigentlich war ich im Abiturjahr schon damit konfrontiert gewesen. Knapp drei Monate lang stand Faust auf dem Lehrplan. Aber nach vielerlei Erfahrungen im Zusammenhang mit Gedichtinterpretationen habe ich mich
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