Und weg bist du (German Edition)
ließ, konnte ich jetzt vertraute Züge erkennen. Damals war er noch so klein gewesen – ein blonder Junge im Spiderman-Schlafanzug. Ich wurde von einer seltsamen Traurigkeit ergriffen.
»Georgie. Du hast dich sehr verändert, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe.«
»Du auch.«
»Ich war lange fort. Woher wusstest du, dass ich es war?«
»Erst hast du auf der anderen Straßenseite gestanden, dann bist du ums Haus geschlichen und schließlich in den Keller gegangen. Welches andere Mädchen außer dir würde das tun?«
Die anderen kamen zögernd näher. Unser Gespräch schien sie zu verunsichern.
»Aber warum warst du in Seale House, Georgie? Dort leben seit Jahren keine Pflegekinder mehr.«
Er sah mich noch immer an, ohne jedoch eine Miene zu verziehen oder zu antworten. Jetzt, da ich nicht mehr rannte, kroch mir die Kälte in meine geschundenen Knochen und ich begann zu frösteln.
»Was willst du von mir?«
Er hob das Messer wie einen Pokal. »Dein Herz.«
»Ich fürchte, du meinst das nicht im übertragenen Sinn.«
»Du hättest es nicht tun dürfen, Jocey.«
»Was hätte ich nicht tun dürfen? Ich hätte dir nicht unter dem Tisch mein Brötchen geben dürfen? Oder die Toilette nach Ohrenkneifern absuchen, bevor du dich dort hingewagt hast? Hätte ich nicht sagen sollen, dass ich es war, die Hazels Porzellanschüssel kaputt gemacht hat, um dich davor zu bewahren, die Nacht im Keller zu verbringen?«
Als Georgie einen Schritt nach vorn machte, wich ich einen zurück. Wir waren wie zwei zaudernde Tänzer. Als er das Messer abermals hob, sprang ich zur Seite.
»Was ist los mit dir, Georgie? Du bist kein Killer!«
Vielleicht doch. Die anderen näherten sich immer weiter und langsam verlor ich die Zuversicht. Schmerzlich wurde mir bewusst, dass es aus diesem Albtraum kein Entkommen gäbe. Schlimmstenfalls würde ich nie mehr daraus aufwachen. Georgie schwang das Messer und ich entkam der Klinge nur knapp, bevor ich über die alten Kartons stolperte und das Gleichgewicht verlor. Als ich aufblickte, stand Georgie über mir und verzog sein makelloses Gesicht zu einem widerlichen Grinsen. Die Augen funkelten hasserfüllt. Wieder hob er das Messer. Verzweifelt trat ich nach ihm und traf ihn mit dem Fuß am Knie. Er heulte laut auf und strauchelte rückwärts. Ich versuchte mich schnell auf den Bauch zu drehen und über die Kartons in Richtung Zaun zu kriechen, doch seine Gehilfen waren längst ausgeschwärmt. Einer von ihnen trat mich so fest in den Rücken, dass ich gegen den knirschenden Maschendraht flog.
Während ich verzweifelt den Zaun hinaufkletterte, war auch Georgie bereits wieder auf dem Weg zu mir. Der Draht schnitt mir in die Finger, dennoch kämpfte ich mich weiter hinauf. Als ich über die Schulter blickte, sah ich, wie er den Arm in einem wilden Bogen schwang, die tödliche Klinge auf meinen Rücken gerichtet, und ich wappnete mich für den Stich.
In dem Moment war ein lauter Schuss zu hören und Georgie wirbelte herum wie eine Marionette, bevor er zusammenbrach und das Messer über den Gehsteig schlitterte. Eines der Mädchen begann zu kreischen. Schnell hechtete ich über den Zaun und landete hart auf Metallfässern, an denen ich mich hinuntergleiten ließ. Ich kauerte mich dahinter und lugte zwischen den Kartonstapeln hindurch. Am anderen Ende der Gasse sah ich die Umrisse eines Mannes vor dem schwefelgelben Licht der Querstraße. Ich konnte weder sein Gesicht noch sonst etwas erkennen, aber als er einen weiteren Schuss abfeuerte, kümmerten sich die Kids nicht weiter um ihren am Boden liegenden Freund und verschwanden schnellstmöglich. Mein Herz klopfte wild und mein Atem war nur noch ein angstvolles Japsen. Ich erhaschte einen letzten kurzen Blick auf meinen Retter, dann war auch er um die Ecke verschwunden.
Als ich mich langsam erhob und durch den Zaun schaute, sah ich Georgie reglos auf dem Boden liegen. In seinen Augen war kein Hass mehr. Blut sickerte aus seinem Kopf und hinterließ eine dunkle Lache auf dem Gehsteig. Einen Moment lang erkannte ich in ihm wieder den kleinen Jungen, der mit einem hässlichen Spielzeugdinosaurier schlafen ging und Angst vor Ohrenkneifern hatte.
»Georgie«, flüsterte ich und sein Name blieb mir im Halse stecken.
Schnell wandte ich mich ab und flüchtete an dem Müllcontainer und einem parkenden Lieferwagen vorbei. Einmal stolperte ich und schlug mir das Knie auf dem Asphalt auf, aber ich rappelte mich sofort wieder hoch, denn ich hatte
Weitere Kostenlose Bücher