Und weg bist du (German Edition)
kalten Augen, die sie jetzt beschuldigend zusammenkniff, waren unverkennbar.
Die Pflegerin, die den Rollstuhl schob, lächelte uns an. Sie hatte ein rundes Gesicht und eine freundliche Ausstrahlung, ganz im Gegensatz zu ihrer Patientin. »Hazel, Sie haben Besuch.« Ihre Stimme klang heiter, als sie nickte und fragte: »Wie geht es dir, Noah?«
Überrascht ging mein Blick von Hazels mürrischer Visage zu ihm. Kannte ihn diese Frau?
Hazel schüttelte entschlossen den Kopf. »Raus aus meinem Zimmer!«
»Jetzt hören Sie aber auf damit«, sagte die Pflegerin bestimmt. »Das ist doch Ihr Sohn.«
fünfundzwanzig
NOAHS GESCHICHTE
Es war das dritte Wochenende im Oktober. Der Himmel war strahlend blau und wolkenlos, doch im Wind spürte man bereits die herbstliche Kühle. Er wirbelte das Laub vom Boden auf und ließ es rascheln wie Papier. Langsam schlich ich vorwärts und bemühte mich dabei keine Geräusche zu machen, während ich den würzigen Geruch einatmete. Der Duft verwesender Blätter war einer meiner Lieblingsgerüche, neben Popcorn im Kino und Regen. Ich ließ den Blick über die dunklen Baumstämme schweifen und hielt nach Noah und Jack Ausschau.
Wir spielten an unserem freien Samstagnachmittag in dem Wäldchen neben Seale House mit aller Raffinesse Verstecken. Ich war dran und suchte in den Zweigen über mir sowie hinter den mit Pilzen bewachsenen Baumstümpfen. Durch das Laub hindurch sah ich etwas Dunkelblaues aufblitzen und wusste sofort, dass es Noahs Jacke war. Schnell huschte ich um einen verrotteten Baum herum und kauerte mich hinter einen dicken Stamm. Er kam direkt auf mich zu. Ich rührte mich nicht vom Fleck und wartete. Während ich ihn in die Falle laufen ließ, kicherte ich bei dem Gedanken an sein überraschtes Gesicht, wenn ich aufspringen und ihn packen würde.
Plötzlich merkte ich, dass sich jemand von hinten näherte. Langsam drehte ich mich um, als ein seilartiges Objekt an meinen Augen vorbei nach unten flog. Um meine Kehle schloss sich mit rasender Geschwindigkeit eine Drahtschlinge. Mir entwich ein Schreckensschrei. Ich griff nach dem Draht, doch es war zu spät, um die Finger dazwischenzuschieben. Die Schlinge wurde fester zugezogen. Verzweifelt fuchtelte ich mit den Armen und schlug nach der Person in meinem Rücken, doch der Draht drückte mir die Luft immer weiter ab und ich erreichte sie nicht. In meinen Ohren pulsierte das Blut. Dennoch stemmte ich die Füße in den Boden und beugte mich mit aller Kraft vor, um meinen Angreifer von den Füßen zu holen. Der Schmerz, als mir der Draht in die Haut schnitt, war entsetzlich. Als der Druck danach noch immer nicht nachließ, wurde mir erst schwindelig und dann schwarz vor Augen.
Ich konnte das Gewicht auf dem Rücken nicht mehr halten und sank auf die Knie. Mein Kopf dröhnte. Während ich langsam das Bewusstsein verlor, stöhnte der Angreifer vor Schmerzen plötzlich laut auf und der Draht lockerte sich. Ich bekam wieder Luft, aber nicht schnell genug, um mich vor der Ohnmacht zu bewahren.
In diesem seltsamen Zustand hatte ich einen kurzen, aber sehr realen Traum von einem schwarzen Seidenumhang, der langsam auf mich herabsegelte wie ein riesiges Blatt. Mein Bewusstsein kehrte wieder und ich schlug die Augen auf. Jack beugte sich über mich und redete mit mir, doch durch das Dröhnen in meinen Ohren konnte ich ihn nicht verstehen. Es war, als würde er in einer fremden Sprache sprechen. Die Äste hoben sich scherenschnittartig von dem blauen Himmel ab. An einem hing nur noch ein einziges Blatt. Ich rechnete damit, dass es sich jeden Moment lösen und sich auf dem Weg nach unten in einen schwarzen Umhang verwandeln würde.
»Noah!«, schrie Jack und seine Stimme hatte noch nie so sehr nach einem Schluchzen geklungen. »Lass ihn und komm her!«
Kurze Zeit später beugte sich auch Noah über mich und redete mit seiner schönen, tiefen Stimme auf mich ein, auch wenn die Worte stark verzerrt bei mir ankamen. Ich blickte zu den beiden Jungen auf, die ich mehr liebte als alles andere auf der Welt, und begann zu weinen. Nachdem ich mehrere Minuten so dagelegen hatte, war mein Verstand endlich in der Lage zu verarbeiten, was sie sagten. Langsam kehrten auch meine Kräfte zurück. Sie halfen mir mich aufzusetzen. Als der Schwindel nachließ, drehte ich mich um und sah, wer mich angegriffen hatte. Eckzahns Gesicht war übel zugerichtet; Blut tropfte ihm aus der Nase. Er rappelte sich hoch und starrte mich mit hasserfülltem Blick an.
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