Und weg bist du (German Edition)
als ich dich gefragt habe, wie du nach Seale House gekommen bist?«
Er beugte sich vor, stützte die Unterarme auf den Knien ab und schob die Finger ineinander. »Ich habe nicht gelogen. Ich habe gesagt, dass meine drogenabhängige Mutter von ihrem Dealer geschwängert wurde, mich aber nie wirklich haben wollte.«
»Aber sie ist so alt.«
»Na und? Sie war in den Vierzigern, als es geschah, und zu vollgedröhnt, um etwas zu unternehmen, bevor es zu spät war. Gott allein weiß, warum ich nicht vollkommen behindert oder gleich hirntot zur Welt gekommen bin.«
»Wie kam sie an Seale House?«
»Sie ist dort aufgewachsen. Ihre Mutter starb, als sie noch klein war. Ihr Vater hat sie allein großgezogen. Er hat sie schlecht behandelt. Vielleicht wirkte sie willensstark, aber eigentlich war sie schon immer schwach und verängstigt … sie saß dort fest. Jahrelang hat sie den alten Kerl gepflegt, bis er schließlich starb. Nur mit Drogen konnte sie die Situation ertragen.«
»Und? Wer von uns hatte kein schweres Leben? Zumindest hatte sie ein Zuhause. Außerdem hast du gesagt, als ich dir von Melodys Vergangenheit erzählt habe, dass du kein Mitleid mit Menschen hast, die ihr Fehlverhalten auf eine schwierige Kindheit schieben.«
Er setzte sich auf und sah mich mit seinen unergründlich braunen Augen an. »Ich will nichts entschuldigen. Ich erkläre es dir nur.«
»Wieso hat sie Pflegekinder aufgenommen?«
»Ich war ungefähr sieben Jahre alt und das Geld, das sie geerbt hatte, war buchstäblich in Rauch aufgegangen. Alles, was ihr blieb, war das Haus. Es war so groß, dass irgendjemand sie auf die Idee brachte, Pflegekinder aufzunehmen.«
»Was für eine tolle Idee.«
»Nicht wahr?«
»Und ich habe dich die ganze Zeit für einen Helden gehalten, der sich furchtlos bei ihr für uns einsetzt und mutiger war als wir anderen. Aber in Wirklichkeit warst du nur ihr Handlanger.«
Er wandte den Blick ab. »Das ist nicht fair, Jocelyn. Ich war ein Kind, das versucht hat irgendwie durchzukommen, wie ihr alle.«
Ich erinnerte mich an den ersten Abend, als sich Noah zu uns in den Keller geschlichen und Jack und mir den Karton mit den Decken und Taschenlampen gezeigt hatte. Wir hatten ihn für ein normales Pflegekind gehalten, das gelernt hatte, wie man in dem System überlebte. Wie viel komplizierter seine Geschichte war, ahnten wir nicht.
»Ich glaube, du hast Recht. Der ständige Balanceakt, alles am Laufen zu halten, war sicher nicht einfach. Du hast dich um sie gekümmert und dafür gesorgt, dass im Haus alles lief.«
»Am schlimmsten war, wie sehr ihr sie alle gehasst habt. Ich hatte Angst, ihr würdet mich auch hassen, wenn ihr es wüsstet. Als ich noch klein war, haben Hazel und ich auf die harte Tour gelernt, was das bedeutet. Das erste Pflegekind hat mich nämlich zusammengeschlagen, um sich an ihr zu rächen. Als wir dann neue Kinder bekamen, hat sie beschlossen mich wie alle anderen im Haus zu behandeln. Ich hatte kein eigenes Zimmer mehr und nannte sie Hazel. Niemand ahnte, dass ich ihr Sohn war, da wir uns nicht ähnlich sahen. Und sie hat mir den Mädchennamen ihrer Mutter als Nachnamen gegeben. So ist aus mir Noah Collier geworden.«
»Wie fühlte es sich an, dass Hazel dich als Sohn verleugnet hat?«
»Das war einfach Überlebenstaktik, mehr nicht.«
»Komm schon, Noah. Ich hatte selbst eine Mutter, der ich ziemlich egal war. Weißt du das nicht mehr?«
Es dauerte eine Weile, bis er antwortete: »Manchmal habe ich mich schon gefragt, wie es wäre, wenn ich als ihr Sohn leben könnte. Und ich hatte die stille Hoffnung, dass sie dann vielleicht anfangen würde mich zu lieben wie eine richtige Mutter. Doch selbst nachdem die Pflegekinder fort waren, änderte sie sich nicht.«
Sein unglückliches Gesicht rief die unzähligen Male in mir wach, in denen ich selbst insgeheim gehofft hatte, Melody würde mich eines Tages lieben, wie sie Jack liebte. Solche verzweifelten Träume hatte wohl jedes ungewollte Kind.
»Was ist mit Hazel geschehen, dass sie so geworden ist?«
»Vor einigen Jahren hatte sie einen üblen Schlaganfall. Als Alzheimer dazukam, ging es richtig bergab. Der Drogenkonsum in der Vergangenheit war auch nicht gerade hilfreich.«
»Sie ist der wahre Grund, warum du Watertown nicht verlassen hast«, wurde mir plötzlich bewusst. »Wie kannst du ihr gegenüber so loyal sein, obwohl sie eine so schreckliche Mutter gewesen ist?«
»Wahrscheinlich bin ich in dieser Hinsicht einfach schwach.
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