Und wenn wir fliehen (German Edition)
es bis nach Atlanta war, aber die Entfernung war sicher nicht geringer als das, was wir bis jetzt schon zurückgelegt hatten. Eine Strecke, die man in zwei Tagen hätte schaffen können und die am Ende zwei Wochen gedauert hatte. Etwas zu essen besaßen wir, aber wir würden es schaffen müssen, irgendwo Sprit aufzutreiben, uns Michaels Anhänger vom Leib zu halten und den Impfstoff ausreichend zu kühlen, weil wir dann weiter nach Süden kämen.
Und dann war da noch Gav.
Er hatte keine zwei Wochen mehr. Er hatte nicht mal mehr eine. Schon in wenigen Tagen würden die Halluzinationen anfangen, und wir hatten keine Möglichkeit, ihn zu beruhigen. Aber ich hatte ihm versprochen, es weiter zu versuchen.
Wir konnten es uns nicht leisten, auf Drew zu warten.
»Der Truck«, sagte ich. »Wenn wir weg wollen, müssen wir fahren. Wir können nicht bis Atlanta laufen.«
Tobias runzelte die Stirn. »Er steht ungefähr ’ne halbe Stunde Fußweg von hier entfernt. Falls er noch da ist. Ich hab den Schlüssel noch behalten, aber …«
Aber wenn Anika ihnen von uns erzählt hatte, dann sicher alles. Sie hatten also bestimmt auch nach dem Truck gesucht.
»Also, heute Nacht hat es jedenfalls keinen Sinn mehr, ihn zu holen«, erwiderte ich. »Drew hat gesagt, die Wächter patrouillieren in der Gegend, und sie könnten die Scheinwerfer schon aus mehreren Straßen Entfernung sehen. Wenn wir bei Tageslicht fahren, fallen wir weniger auf. Wir gehen morgen als Erstes den Truck holen, und wenn wir den nicht mehr benutzen können, dann suchen wir uns etwas anderes.«
Gav weckte mich so früh, dass gerade erst langsam das trübe Licht der Dämmerung durch das Schlafzimmerfenster drang. Er drehte sich im Bett um, schlang die Arme um mich und zog mich fest an sich. Im ersten Moment freute ich mich darüber. War glücklich, ein paar zusätzliche wache Minuten mit ihm zu haben.
Er nieste über die Schulter und schmiegte sich dann an mich.
»Du bist so schön«, sagte er. »Und warm. Und weich. Wunderbar. Hab ich dir das schon mal gesagt?«
Ich wollte lachen, doch der Laut blieb mir im Hals stecken. Was er da sagte, klang nicht so wie Gavs übliche Neckereien.
»Das einzige andere Mädchen, mit dem ich so zusammen war«, fuhr er fort, »war so schrecklich dünn. Nur Haut und Knochen. Gar nicht angenehm.«
Ein Anflug von Eifersucht überkam mich, und ich fragte mich, was er mit »so zusammen« wohl meinte. Zusammen im Bett? Und was hatten sie noch alles in diesem Bett gemacht?
Dann überdeckte das Entsetzen, das in mir aufstieg, alles andere.
»Gav«, sagte ich leise.
»War sowieso nicht dasselbe«, redete er weiter, als hätte ich überhaupt nichts gesagt, und gähnte. Ein paar kurze Huster ratterten aus seiner Brust. »Sie war hübsch, und ich dachte wirklich, ich würde sie mögen, aber sie quatschte immer über so albernes Zeug, und dann stellte sich raus, dass sie Vince sowieso besser fand. Als ich das erste Mal zu dir nach Hause kam, wolltest du mich nicht mal reinlassen, und du warst so wütend , aber du hast mir zugehört und gelächelt, und da wusste ich es. Das ist es. Das ist das Mädchen, das ich will.«
Ich drehte mich in seinen Armen um und küsste ihn auf die Wange. Er sah mich an, doch sein Blick wirkte irgendwie verschwommen, als wäre er nicht richtig da.
Und das war er auch nicht.
Irgendwann in der Nacht hatte das Virus den Teil von Gav zerstört, der ihn entscheiden ließ, was er sagen wollte und was nicht, was er wirklich meinte und was nur unkontrolliert aus ihm herausplatzte. Ich presste das Gesicht an seine Jacke und drückte fest die Augen zu, um die Tränen zurückzuhalten.
»Das hab ich nicht gewusst«, sagte ich. Zu diesem frühen Zeitpunkt war es mir gar nicht in den Sinn gekommen, so etwas von Gav zu denken. Mein Kopf war zu voll mit Sorgen über das Virus gewesen, mit Gefühlen für Leo, die ich noch nicht hatte loslassen können. Wie lange hatte ich wohl gebraucht, um ihn wirklich wahrzunehmen?
»Nicht mal meine Eltern«, sagte Gav, »haben sich dafür interessiert, mir zuzuhören. Haben kaum mal gelächelt. Und jetzt sind sie auch fort. Du verlässt mich nicht, oder? Immer gehst du raus, und ich weiß nicht, ob du zurückkommst. Ich hasse das. Ich will, dass du bei mir bleibst, Kae. Ich mag es nicht, allein zu sein.«
Ein Schluchzen brach aus mir hervor, bevor ich es noch unterdrücken konnte. Ich presste die Lippen zusammen. Ich schluckte und holte Luft, während die Tränen liefen und mir
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