Und wenn wir fliehen (German Edition)
andere war mit Eis bedeckt, über das der Wind hinwegfegte. Auf dieser hielten wir uns, die Schlitten hinter uns herziehend, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen.
Nach einer Weile ließen wir die letzten Häuser der Stadt hinter uns. An ihrer Stelle erhoben sich Kiefern und Fichten. Leo wechselte mehrmals das Zugseil von einer Hand in die andere, um schließlich mitten in die Schlinge zu steigen und das Gewicht mit seinem Körper zu ziehen. Kurz darauf waren wir alle seinem Beispiel gefolgt. Es brauchte seine Zeit, bis ich mich daran gewöhnt hatte, doch bald schon zog ich den Schlitten, als hätte ich mein ganzes Leben lang nichts anderes gemacht.
Meredith, deren leichterer Schlitten ein wenig schlingerte und ständig mit meinem zusammenstieß, stiefelte neben mir her, das Kinn in die Luft gestreckt und mit dem entschlossensten Gesichtsausdruck, den man sich vorstellen kann. Als hätte sie entschieden, den ganzen Weg bis nach Ottawa in einem Stück zu laufen. Die beiden Zöpfe, zu denen ich ihre Haare am Abend zuvor geflochten hatte, wippten unter ihrer Bommelmütze hin und her.
Jenseits der Fahrbahn konnte ich inzwischen kein einziges Gebäude mehr erkennen. Wären der Highway und die gelegentlich auftauchenden Kilometertafeln nicht gewesen, hätten wir genauso gut Polarforscher in der unendlichen Weite der Arktis sein können. Der kalte Wind blies mir unter den Schal, und ich fing an zu zittern.
Vor der Epidemie hatte ich immer davon geträumt, nur mit meiner Campingausrüstung und ein paar Notizbüchern bewaffnet die ausgetretenen Pfade zu verlassen, um abseits menschlicher Betriebsamkeit die Natur zu beobachten. In meiner Vorstellung hatte sich das jedoch nie so schrecklich einsam angefühlt. Vielleicht weil ich damals immer die Gewissheit hatte, dass es kaum ein paar Tage Fußmarsch entfernt eine Stadt mit fließend Wasser und Strom gab, und Menschen, die sich freuen würden, mich zu sehen.
Aber wenn Eichhörnchen und Waschbären es jedes Jahr schafften, dieses Wetter zu überleben, dann könnten wir das sicher auch.
»Du hast doch den größten Teil des Weges zur Insel zu Fuß zurückgelegt, oder?«, erkundigte Gav sich bei Leo, nachdem wir ungefähr eine Stunde unterwegs waren. Leo nickte.
»Ab der Grenze«, antwortete er. »Da lag damals noch kaum Schnee, war aber trotzdem kein Spaß. Ich hatte weder eine Campingausrüstung noch einen ordentlichen Essensvorrat dabei, so wie wir jetzt.«
Meredith sah ihn neugierig an. »Wie hast du es denn dann angestellt?«, wollte sie wissen.
»Mere«, mahnte ich.
»Ist schon gut«, sagte Leo. Er lachte verlegen. »Ich hatte wohl Glück. Und außerdem die ganzen Jagdtouren, auf die mein Dad mich immer mitgeschleppt hat – ich wusste, wie man Feuer macht und sich was zu essen fängt. Und ich hab einfach nicht aufgegeben.«
»Seht mal«, unterbrach Tessa ihn. »Ich glaube, da ist ein Auto.«
Und wirklich: da stand ein grauer Kleinbus auf dem Seitenstreifen, festgefahren in einer Schneewehe, der Seitenspiegel glitzerte im Sonnenlicht. Gav war zuerst da. Die Fahrertür ließ sich sofort öffnen und er beugte sich hinein, um gleich darauf mit gerunzelter Stirn wieder aufzutauchen.
»Die Besitzer haben den Schlüssel wohl mitgenommen«, sagte er. »Vermutlich dachten sie, sie würden den Wagen später irgendwann abholen.«
»Mit den Autos hier draußen hat es wahrscheinlich keinen Sinn«, meinte Tobias. »Die sind doch garantiert nur am Highway zurückgelassen worden, wenn der Sprit ausgegangen ist oder sie aus sonst einem Grund schlappgemacht haben, oder? In der Stadt haben wir bestimmt mehr Glück. Wenn da irgendwo eins in einer Einfahrt steht, dann ist der Autoschlüssel vielleicht noch im Haus.«
»Und die Leute, denen es gehört, unter Umständen auch«, erwiderte ich. »Lebendig oder tot.«
Tobias sah in die andere Richtung. »Einen Versuch ist es doch wert. Es gibt bestimmt Leute, die einfach zu Hause gestorben sind, sich den Stress mit dem Krankenhaus nicht antun wollten – die brauchen jetzt kein Auto mehr. Mein Stiefvater hätte garantiert jeden zum Teufel geschickt, der ihm gesagt hätte, er solle sich irgendwo zusammen mit einem Haufen kranker Leute in ein Zimmer quetschen.«
»Dann war’s ja vermutlich ein Glück, dass du gerade weit weg auf einem Armeestützpunkt warst«, bemerkte Gav.
»Glaub mir«, murmelte Tobias. »Da wäre ich lieber auch nicht gewesen.«
Wir marschierten weiter, auf eine Brücke, die über einen zugefrorenen Fluss
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