Und wenn wir fliehen (German Edition)
sind.«
»Ja«, murmelte ich. Und wir hatten es an einem Ort erfahren, an dem es eine Heizung und Strom gab, und genug Platz, um dort so lange wie nötig zu bleiben. Das hatte Hilary uns jedenfalls beim Frühstück vorgeschlagen. Aber nichts davon konnte mir den Schmerz in der Brust nehmen.
Als ich mich wieder etwas gefasst hatte, ging ich zu Tessa und Meredith, die mit Hilary im Gewächshaus waren. Bei all den herumliegenden Brettern und dem ganzen Unkraut, das zwischen den eigentlichen Nutzpflanzen sprießte, war kaum zu erkennen, dass dort gezielt etwas angebaut wurde. »Auf diese Weise können wir zwar nicht so viel ernten«, erklärte Hilary, »aber es ist sicherer, wenn es möglichst so wirkt, als ob es brachliegt.«
Wir liefen von Bohle zu Bohle, um keine Fußspuren zu hinterlassen. Meredith balancierte mit ausgestreckten Armen, als wäre es eine Reihe von Schwebebalken, während Tessa zwischen den Beeten umherstreifte und Fragen stellte wie: »Haben Sie mal probiert, die Zwiebeln zwischen die Karotten zu setzen?« oder: »Was benutzen Sie denn zum Düngen?« Hilary hätte vor Freude fast einen Luftsprung gemacht, als Tessa sagte, sie könnten bestimmt Salatpflanzen ziehen, wenn sie sie nur an einen schattigeren Platz setzten.
Als wir zum Mittagessen wieder zurück zum Versammlungsgebäude gingen, war Leo immer noch dort, saß mit geschlossenen Augen da, während die Musik ihn berieselte. Er wirkte so entspannt, wie ich ihn, seit wir von der Insel fort waren, nicht mehr gesehen hatte.
Die Entscheidung hätte leicht sein müssen. Natürlich würden wir in der Künstlerkolonie bleiben, wenn es keinen Sinn hatte, nach Ottawa zu gehen, wenigstens so lange bis es wärmer wurde und unsere Chancen, lebend zurück zur Insel zu kommen, besser stünden. Doch als ich mich am Abend in der Hütte, die Hilary uns zum Übernachten angeboten hatte, neben Meredith legte, war der Schmerz in meinem Inneren noch größer geworden.
Das Gewächshaus war großartig, aber es konnte die etwa zwanzig Menschen, die in der Kolonie lebten, nicht komplett versorgen. Die Haferflocken, das Salzgebäck, das wir zur Suppe hatten, die Nudeln am Abend, all das stammte aus Plünderungen. Was würden sie tun, wenn sämtliche Häuser in der Umgebung leergeräumt waren? Wenn ihnen der Diesel für den Generator ausging?
Hilary tat so, als könnten sie für immer so zurechtkommen – als wären sie hier auf einem anderen Stern, fernab vom Rest der Welt. Aber so funktionierte das Leben nicht. Jede Spezies war ein Teil des Ökosystems. Sie musste mit Eindringlingen fertig werden, sich den Anforderungen der Außenwelt stellen. Vielleicht schafften sie es auf diese Weise, in der Kolonie noch ein paar Monate länger zu überleben, vielleicht auch noch ein ganzes Jahr. Aber egal welche Vorsichtsmaßnahmen sie trafen, früher oder später würde der Rest der Welt hier reinkrachen. Wie ein Hubschrauber, der Bomben auf eine ahnungslose Insel abwarf.
Waren sie wirklich glücklich damit, ein solches Dasein zu führen, als hätten sie nicht noch ein paar Monate zuvor richtige Häuser gehabt, und Jobs, und Leben ?
Dad und Nell und die Freiwilligen im Krankenhaus hatten weitergearbeitet, auch als die Flure schon überquollen und wir keinerlei Unterstützung vom Festland mehr hatten. Irgendwo hier draußen gab es doch bestimmt noch mehr Menschen, die nicht aufgegeben hatten? Was, wenn die Welt wieder in Ordnung zu bringen, einzig und allein davon abhing, dass ich den Impfstoff weitertrug und diese Leute fand?
Als ich jedoch die Augen schloss, verfolgte mich eine andere Frage bis in den Schlaf. Was, wenn wir es nicht schafften und alle, die mit mir gekommen waren, wegen meiner Entscheidung sterben mussten?
Am nächsten Morgen versammelten wir uns in der Quarantänehütte. Leo hockte auf der Matratze, Tessa daneben. Tobias stand an dem kleinen Fenster, während Gav, den Ellbogen auf die Kühlbox gestützt, auf dem Boden saß. Ich sank neben ihn, und Meredith hüpfte aufs Bett.
»Ich denke, es ist ziemlich klar, dass es keinen Sinn hat, nach Ottawa zu gehen«, sagte ich. »Wenn die Lage da schon vor über vier Wochen so schlecht war, wie Lauren sagt, dann wird es mittlerweile nur noch schlimmer geworden sein. Wir müssen also entscheiden, was wir stattdessen tun wollen.«
Tessa nickte. »Ich glaube, Hilary und die anderen würden gern wissen, was wir vorhaben. Ob wir bleiben wollen.«
»Also.« Ich betrachtete meine Hände. »Das ist eine Möglichkeit.
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