Undead 01 - Weiblich, ledig, untot
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konzentrierte ich mich darauf, nicht zu fallen, was gar nicht so einfach war, denn sie zerrten mich so schnell und so wütend, dass meine Zehen kaum den Boden berührten.
Wir stiegen tief, tiefer, am tiefsten, und bevor ich auch nur einen Blick auf den Raum, in den sie mich schubsten, werfen konnte, flog ich durch die Luft, von Dunkelheit in tiefere Dunkelheit. Und irgendjemand folgte mir in die Dunkelheit.
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Es war ein Mädchen. Natürlich hätte sie auch hundert Jahre alt sein können, aber sie sah eher aus, als müsste sie beim Zigarettenkaufen ihren Ausweis vorzeigen. Obwohl es in der Grube sehr dunkel war, funktionierten meine untoten Augäpfel ausgezeichnet, und ich konnte ihre feine, blasse Erscheinung eingehender studieren: blondes Haar, spitzes Kinn, hohe Wangenknochen und große, dunkle Augen, noch beeindruckender als die von Sha-Dingsda –
Kulleraugen nennt man sie wohl –, groß und hübsch mit langen, seidigen Wimpern. Ich dagegen musste erst eine Wagenladung L’Oreal Luscious Lash verschmieren, damit man überhaupt sah, dass ich Wimpern hatte.
Wir standen also in der Grube und starrten einander an.
Sie sah so jung und frisch aus, ich wäre nicht überrascht gewesen, wenn sie Pompomps hervorgezogen und wie ein Cheerleader getanzt hätte.
Stattdessen fiel sie auf die Knie und beugte sich so tief, dass ihre Stirn den Grubenboden berührte. »Majestät, ich bitte um Vergebung. Ich konnte Euch nicht helfen, es waren zu viele.«
»Steh auf, nenn mich nicht so und mach dir darüber keine Gedanken. Himmel, wirst du wohl aufstehen? Der Boden ist furchtbar eklig.« Ich verlagerte probeweise das 160
Gewicht. Jawohl, meine Schuhe klebten am Boden, wie im Kino nach der Mitternachtsvorstellung der Rocky Horror Picture Show. Ich beugte mich herunter und zog sie hoch.
»Majestät . . . «
»Betsy.«
»Königin Betsy . . . «
»Betsy. Schau mich an.«
Sie schaute weg, dann hob sie schüchtern ihren Blick.
»Das kann ich nicht. Brächtet Ihr es etwa fertig, Elizabeth II. Betsy zu nennen?«
»Nein«, gab ich zu, »obwohl das jemand einmal tun sollte.
Und ich bin nicht die Queen.«
»Noch nicht«, sagte sie geheimnisvoll.
Ich antwortete nicht. Sie war zwar nicht ganz richtig im Kopf, aber süß.
»Wo sind wir? Warum bin ich hier unten? Ist das hier ein Kerker?«
»Das wäre gut, Majestät.«
»Nenn mich nicht so. Das wäre gut? Was soll das hei-
ßen?«
»Der Meister hält seine Biester hier unten.«
»Ich nehme an, Biest ist nicht sein Codename für Häschen?«
»Jetzt in diesem Moment wird er den Hebel ziehen.«
»Aha, den Hebel. Es gibt einen Hebel. Na klar. Bin ich die Einzige, die glaubt, in einem schlechten Film festzuste-cken?«
Sie zwinkerte, offensichtlich verunsichert durch die zahlreichen Unterbrechungen. Wenn ich nervös bin, neige ich 161
zum Quasseln. »Die Käfigtüren werden sich öffnen«, erklär-te sie, als spräche sie zu einem zurückgebliebenen Kind,
»und die Biester werden sich auf uns stürzen.«
»Nun, das ist ein hilfreicher Hinweis.« Ich war nervös, aber nicht zu Tode geängstigt. Noch nicht. Der Cheerleader dagegen hatte mein Interesse geweckt. Warum war sie mit mir in den Schacht gesprungen? Und warum hielt sie so unbeirrbar an der Idee fest, dass ich eine Königin wäre? Ich war ja noch nicht mal Löwe im Sternzeichen!
»Die Wände sind ganz schön steil. Wir werden wohl keine Zeit mehr haben zu klettern. Gibt’s weitere Vorschläge?«
»Ja.« Der Cheerleader suchte in der Tasche seiner Jeans und brachte einen kleinen, gepolsterten CD-Umschlag zu-tage. Sie warf praktisch damit nach mir, so eilig hatte sie es, ihn loszuwerden. »Für Euch. Nur Ihr könnt es ertragen.«
»Äh . . . danke. Das ist mir aber unangenehm, ich habe gar nichts für dich.« Ich öffnete den Umschlag und äugte hinein. Und lächelte. Ich stülpte das Innere nach außen und fühlte, wie die Goldkette kühl in meine Hand glitt.
Ein hübsches goldenes Kreuz hing an einer Kette, die so fein war, dass selbst ich mit meinen Superkräften sie im Dunkel der Grube kaum sehen konnte. Ach, ich vergaß: im Dunkel DER GRUBE. Ich legte sie um, fühlte nach dem klitzekleinen Haken, und Sekunden später lag sie um meinen Hals. »Vielen Dank. Ich habe mein Kreuz zu Hause gelassen.«
»Deshalb seid Ihr die Königin. Oder werdet es sein. Es wurde so vorhergesagt, wisst Ihr.«
»Nein, weiß ich nicht. Wer bist du überhaupt?«
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»Ich heiße Tina.«
»Gott sei Dank, endlich
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