Underground: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
erwachsen. Sie trug ein schlichtes schwarzes Cocktailkleid, das vermutlich aus Paris stammte und mehr kostete als ein Mittelklassewagen. Aber darauf war sie gar nicht angewiesen. Sie hätte ein Gewand aus alten Kartoffelsäcken tragen können, ohne an Wirkung einzubüßen.
Wir folgten ihr hinein, und ihre Mutter folgte uns. Die Suite bestand aus drei Räumen. Ein Wohnzimmer in der Mitte, zwei Schlafzimmer rechts und links. In dem vollständig eingerichteten Wohnraum gab es sogar einen Esstisch, auf dem noch die Reste eines beim Zimmerservice bestellten Abendessens lagen. In einer Ecke des Raums standen Tragetaschen. Zwei von Bergdorf Goodman, zwei von Tiffany. Theresa Lee wies ihre Plakette vor, und Lisa Hoth trat an ein Sideboard, von dem sie mit zwei dünnen Büchlein zurückkam, die sie Lee gab. Ihre Pässe. Sie glaubte offenbar, sich in New York gegenüber einer Polizeibeamtin ausweisen zu müssen. Die Pässe waren kastanienbraun und mit einem goldenen Adler bedruckt, darüber und darunter Worte in kyrillischer Schrift, die wie NACNOPT YKPAIHA auf Englisch aussahen. Lee blätterte sie kurz durch und legte sie dann auf das Sideboard zurück.
Wir nahmen in bequemen Ledersesseln Platz. Swetlana Hoth starrte, durch mangelnde Sprachkenntnisse ausgegrenzt, leer vor sich hin. Lila Hoth betrachtete uns aufmerksam, als wollte sie sich unsere Gesichter einprägen. Eine Kriminalbeamtin vom zuständigen Revier, der Augenzeuge aus der U-Bahn. Zuletzt konzentrierte sie sich auf mich, vielleicht weil sie glaubte, die Ereignisse hätten mich stärker betroffen. Ich beklagte mich nicht darüber. Ich konnte den Blick ohnehin nicht von ihr wenden.
Sie sagte: »Ich bedaure aufrichtig, was Susan Mark zugestoßen ist.«
Ihre Stimme klang ziemlich leise. Ihre Aussprache war deutlich. Sie sprach sehr gutes Englisch. Mit leichtem Akzent und etwas gestelzt. Als hätte sie die Sprache aus alten englischen und amerikanischen Schwarzweißfilmen gelernt.
Theresa Lee schwieg. Ich sagte: »Wir wissen nicht, was Susan Mark zugestoßen ist. Eigentlich nichts. Über die bekannten Tatsachen hinaus, meine ich.«
Lila Hoth nickte höflich, zurückhaltend und ein wenig schuldbewusst. Sie sagte: »Sie möchten verstehen, was ich damit zu tun gehabt habe.«
»Ja, das möchten wir.«
»Das ist eine lange Geschichte. Aber ich will gleich vorausschicken, dass sie nichts enthält, was die Ereignisse in der U-Bahn erklären könnte.«
Theresa Lee sagte: »Also, lassen Sie uns die Story hören.«
Und so hörten wir sie. Der erste Teil bestand aus Hintergrundinformationen. Rein biografisch. Lila Hoth war sechsundzwanzig und stammte aus der Ukraine. Mit achtzehn hatte sie einen Russen geheiratet. Der neureiche Mann war in alle möglichen Unternehmungen nach Moskauer Art verstrickt gewesen. Er hatte sich in dem zerfallenden Staat Ölförderrechte, Kohlebergwerke und Uranvorkommen gesichert. So war er zum einstelligen Milliardär geworden. Danach wollte er ein zweistelliger Milliardär werden. Aber das hatte er nicht mehr geschafft. Vor einem Jahr war der Russe von einem Konkurrenten vor einem Nachtklub mit einem Kopfschuss niedergestreckt worden. Der Leichnam hatte den ganzen nächsten Tag auf dem Gehsteig im Schnee gelegen. Eine Botschaft nach Moskauer Art. Die frisch verwitwete Lila Hoth hatte diesen Wink verstanden, Kasse gemacht und war mit ihrer Mutter nach London gegangen. London gefiel ihr, und sie hatte vor, dort bis in alle Ewigkeit zu leben – ohne Geldsorgen, aber auch ohne wirkliche Beschäftigung.
Sie sagte: »Allgemein wird erwartet, dass junge Leute, die reich werden, etwas für ihre Eltern tun. Das sieht man bei Popstars, Filmstars und Sportlern immer wieder. Und das ist auch eine zutiefst ukrainische Einstellung. Mein Vater ist vor meiner Geburt gestorben. Meine Mutter ist die einzige Angehörige, die mir geblieben ist. Deshalb habe ich ihr natürlich angeboten, was sie nur wollte: Häuser, Autos, Reisen, Kreuzfahrten. Aber sie hat alles abgelehnt. Sie wollte nur, dass ich ihr einen Gefallen erweise. Ich sollte ihr helfen, einen Mann aus ihrer Vergangenheit aufzuspüren. Als hätte sich nach einem langen, turbulenten Leben der Staub gelegt, sodass sie sich endlich auf das konzentrieren konnte, was ihr am wichtigsten erschien.«
Ich fragte: »Wer war dieser Mann?«
»Ein amerikanischer Soldat namens John. Mehr wussten wir nicht. Anfangs hat meine Mutter ihn nur einen Bekannten genannt. Aber dann hat sich herausgestellt, dass er an
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