Underground
Jay?«, fragte ich.
Er nickte. »Ja, bin ich. Ist zwar kein toller Name, aber so heiße ich.«
»Warum soll das kein toller Name sein?«
»Viele Bettler heißen Jay, und die können einem ziemlich auf die Nerven gehen. Ich kenne einige Jays, die ununterbrochen plappern und doch nichts sagen.«
»Sie scheinen aber nicht so einer zu sein.«
»Oh, das täuscht. Früher war ich auch so.« Er nickte vielsagend. »Ich versuche, mich im Alter zu bessern.«
»Jay«, mahnte Quinton. »Hör auf zu flirten.«
Der alte Mann verdrehte die Augen. »Ich flirte doch nicht.«
»Das tust du sehr wohl, du alter Fuchs.«
»Füchse sind schlechte Tiere. Sie bringen Gefahr und Tod. Das weiß jeder. Ich habe gestern Nacht einen Fuchs gesehen, der hinter dieser schicken Bar in einer Gasse verschwand.«
»Hinter welcher Bar?«, wollte ich wissen. Es kam mir seltsam vor, dass wir beide in derselben Nacht mitten in Seattle Füchse gesehen hatten. Es musste der gleiche gewesen sein.
»Ach, Sie wissen schon. Diese Martini-Bar – mit einem Teufel in ihrem Aushängeschild.«
» Marcus’ Martini Heaven?«
Jay nickte. »Ja, die.«
Die Bar befand sich etwa drei Blocks von der Stelle entfernt, wo Will und ich vergangene Nacht die haarige Kreatur und den Zombie getroffen hatten. Als ich mich wieder daran erinnerte, verkrampfte sich mein Magen. Eine eisige Kälte lief mir über den Rücken, während gleichzeitig erneut die Wut auf Will in mir aufstieg. Offensichtlich sah ich genauso aus, wie ich mich fühlte. Vielleicht war ich sogar ein wenig blass geworden, denn Quinton musterte mich ziemlich besorgt. Ich schüttelte den Kopf, um ihn zu beruhigen.
»Ich glaube nicht, dass letzte Nacht jemand gestorben ist«, meinte Quinton.
»Ich habe auch nichts davon gehört«, erwiderte Jay. »Aber vielleicht steht der Fuchs ja auch für etwas anderes. Vielleicht war er da, weil … weil wieder jemand weg ist.«
»Du meinst verschwunden? So wie Tandy?«, hakte Quinton nach.
»Ja, möglicherweise.«
»Ist dir aufgefallen, ob sonst noch jemand fehlt?«, fragte Quinton.
»Na ja, da wäre einmal Tandy und … äh … Little Jolene … Und dann dieser Typ … wie heißt der noch gleich? Der immer Zigaretten dabeihat …«
»Du meinst Pranker Jhery.«
Jay schlug sich auf den Schenkel und nickte langsam. »Genau, Jerrycan Jerry.«
»Und was ist mit Bear?«
»Ich habe doch schon gesagt, dass ich Bear auch schon länger nicht mehr gesehen habe.« Er zog an seiner Decke und schob den Kopf noch weiter nach vorn. »Aber ich habe seine Decke gefunden.«
»Ich dachte mir doch, dass ich die kenne. Wo hast du sie gefunden?«
»Unten im Ziegelbruch.« Er stand auf. »Ich zeige es euch, wenn ihr wollt«, meinte er.
Wir folgten Blue Jay aus dem Obdachlosenwohnheim hinaus in die Kälte. Er wickelte die schmutzige Decke enger um seine Schultern, während uns unsere Mäntel genügen mussten. Als wir Richtung Pioneer Square liefen, sah ich mich um. Der Mond am Himmel war von einem kalten Kreis umgeben. In der Luft lag der Geruch von Eis. Mir lief ein Schauer über den Rücken, als ich Quinton und Jay durch die Dunkelheit und die beinahe leeren Straßen folgte. Leute waren kaum mehr unterwegs, aber dafür umso mehr Schattengestalten aus dem Reich der Gespenster und der Toten.
SECHS
E in wenig unsicher auf der gefrorenen Straße stolperten und schlitterten wir die Jackson Street entlang Richtung Westen. Mein Knie machte mir inzwischen wie der ziemlich zu schaffen. Nach einigen Minuten erreichten wir die Stelle, die Jay uns zeigen wollte.
Wir befanden uns etwa einen halben Block von der Occidental Avenue entfernt, als er nach links in eine Gasse abbog, die neben dem neu erbauten Cadillac Hotel verlief. Bei einem Erdbeben im Februar 2001 war das alte Ziegelgebäude teilweise eingestürzt, sodass man den Rest abgerissen hatte. Lustigerweise hieß der Nachtclub im Keller des Hotels Fenix, und ähnlich wie ein Phönix aus der Asche hatte sich auch das Gebäude wieder erhoben und war im Jahr 2005 als der neue Klondike Gold Rush National Historic Park wiedereröffnet worden. Ich begriff zwar nicht, wie man einen Nationalpark in einem Gebäude unterbringen konnte, und ich war mir auch nicht sicher, wie es gelungen war, das Haus Ecke Jackson Street und Second Avenue aus der Schutthalde wieder zu errichten. Aber als ich das Haus nun zum ersten Mal zu Gesicht bekam, war ich von seiner äußeren Erscheinung doch recht beeindruckt.
Ich nahm nicht an, dass es in dem
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