Underground
Leben war? Dass sich die Welt seit jenem Moment, in dem wir uns befanden, weiter entwickelt hatte?
»Ich möchte wissen, ob jemand hier unten verletzt worden ist?«
»Hier? In der Gegend?«
Ich nickte. »Ja, nach dem Erdbeben, aber nicht durch das Erdbeben.«
»Sie meinen Chuck-o.«
»Wurde er verletzt?«
»Er wurde getötet.«
»Was hat ihn getötet?«
»Irgendetwas hat ihn angenagt und dann wie ein Stück Fleisch beiseitegeworfen.« Der Geist zeigte Richtung Südwesten. »Dort unten, beim Cowboyladen … Heute Morgen oder so …« Er wirkte verwirrt. »Wann war das nochmal? Ich bin mir nicht sicher …«
»Äh, wann war denn das Erdbeben genau?«, erkundigte ich mich. Er schien sich der Zeit bewusster zu sein als erwartet. Allerdings fiel es ihm offenbar schwer, sie genau zu bezeichnen.
Mit dieser einfachen Frage kam er besser zurecht. »Das Erdbeben war vor zwei Tagen. Und Chuck hat man heute tot aufgefunden.«
»Verstehe«, erwiderte ich. »Wissen Sie, was ihn umgebracht hat?«
Er verzog für einen Moment nachdenklich das Gesicht.
»Nein«, antwortete er schließlich. »Aber auf jeden Fall nichts Menschliches. Und auch kein Hund oder herabfallende Ziegel oder so.«
»Weshalb sind Sie sich da so sicher?«
Er schnaubte ungeduldig. »Woher weiß man, dass Wasser nass ist? Ich weiß es einfach.«
Ich nickte und fühlte mich auf einmal sehr erschöpft. »Danke.«
Er erwiderte mein Nicken und klinkte sich dann wieder in die Unterhaltung der anderen ein, als ob ich niemals da gewesen wäre.
Ich kehrte zu einer – wie ich hoffte – weniger auffälligen Stelle zurück, um dort den Zeitsplitter verlassen zu können. Zu meiner Überraschung tauchte ich in einer anderen Gasse wieder auf. Quinton befand sich ganz in meiner Nähe und sah mich aufmerksam an.
»Es ist ziemlich schwer, dir zu folgen, wenn du da drin bist«, sagte er.
»Wirklich? Mir kommt es so vor, als käme ich kaum ein paar Zentimeter voran. Ich habe angenommen, dass es recht leicht sein müsste, mit mir Schritt zu halten.«
»Du bewegst dich auch nicht schnell, aber du scheinst dich irgendwie an den Rändern aufzuhalten, sodass ich dich teilweise kaum sehen kann. Manchmal verschwindest du sogar in einer Wand, tauchst aber nach ein oder zwei Sekunden wieder auf.«
»Hm«, murmelte ich und dachte nach. Ich hatte schon früher ein paar Hinweise darauf bekommen, dass ich auf dieser Seite des Grau offenbar fast unsichtbar wurde. Bisher war mir jedoch nicht klar gewesen, wie wenig man tatsächlich von mir sehen konnte. Für den Moment fühlte ich mich zu erschöpft, um lange darüber nachzudenken.
»Bist du auf etwas Interessantes gestoßen?«, erkundigte sich Quinton.
»Was?« Ich schüttelte mich. »Nein, nicht viel. Ein Obdachloser aus dem Jahr 1949 hat mir erzählt, dass ein Mann namens Chuck in der Nähe des alten Duncan & Sons oder des Cowboyladens, wie er ihn noch nannte, getötet wurde. Es hat ganz nach der gleichen Todesart geklungen, aber viel wusste er nicht. Außerdem habe ich das Gebäude gesehen, das früher an der Stelle stand, wo sich jetzt der Occidental Park befindet. Ich weiß nicht warum, aber irgendwie war es merkwürdig, es so zu sehen …«
Es wurde immer später, und ich hatte das Gefühl, im Grunde noch nichts Neues erfahren zu haben. Zumindest nichts, was uns weiterbrachte.
»Wir sollten es woanders versuchen. Hier kann ich nirgendwo mehr eindringen.«
Der winterliche Himmel wurde dunkler, da viele Schneewolken aufgezogen waren. Wir beschlossen, irgendwo zu Mittag zu essen. Meine Ausflüge ins Grau hatten mich überraschend hungrig gemacht. Nach dem Essen tauchten wir in die Welt unterhalb der Gassen und kleinen Seitenstraßen des sogenannten Ziegelbruchs ab. Ich glitt immer wieder ins Grau und versenkte mich dort in verschiedene Zeitebenen.
Die Gegend unter der Occidental Avenue war voller Erinnerungen und Spektralflammen jenes Feuers, das einmal dort gewütet hatte. Leider waren die meisten Schattengestalten, die ich antraf, nicht mehr als bloße Aufzeichnungen jener Ereignisse. Keine war in der Lage, mir zu antworten. Quinton und ich liefen die Blocks unter der Stra ße entlang, bis mir endlich ein Geist ins Auge stach. Ich versuchte, einen besseren Blick auf die weibliche Figur zu
werfen, doch sie floh in jene Gasse, in die Quinton und ich vor kurzem mit Blue Jay eingebogen waren. Es kam mir so vor, als wären seit jenem Abend bereits Wochen vergangen.
Hier schienen die Zeitschichten weniger
Weitere Kostenlose Bücher