Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)
beide, den anderen anzusehen, ohne dass er es merkt. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte ich uns lächerlich und schwach gefunden.
Er biegt auf eine unbefestigte Straße ab, die als Privatbesitz gekennzeichnet ist, und fährt dicht unter den Bäumen an den Holzhäusern vorbei, den Berg hinauf, bis wir zu einem großen Stacheldrahtzaun kommen. Tucker springt aus dem Wagen und fummelt mit seinen Schlüsseln herum. Dann schließt er das rostige Metallschloss auf, das die beiden Torflügel zusammenhält, steigt wieder in den Wagen und fährt hindurch. Als wir eine weitläufige, menschenleere Lichtung erreichen, parkt er den Truck und sieht mich endlich an.
«Wo sind wir?», frage ich.
«Auf meinem Land.»
«Deinem Land?»
«Mein Großvater wollte hier ein Holzhaus bauen, aber dann bekam er Krebs. Er hat mir das Land hinterlassen. Es sind über drei Hektar. Hierher würde ich kommen, hätte ich mal eine Leiche zu vergraben oder so was.»
Ich starre ihn an.
«Also erzähl es mir», sagt er.
Ich hole tief Luft und gebe mir Mühe, seinem Blick auszuweichen, mit dem er mich in Grund und Boden starrt. Ich will es ihm erzählen. Ich wollte es ihm schon immer erzählen. Ich weiß einfach nur nicht genau, wie.
«Ich weiß nicht mal, womit ich beginnen soll.»
«Wie wäre es, wenn du mit dem Teil beginnst, als du ein übernatürliches Wesen aus Licht gewesen bist.»
Ich halte den Atem an.
«Du denkst, ich bin ein Wesen aus Licht?»
«So hab ich das gesehen.» Wieder spüre ich die Angst in ihm, an der Art, wie er den Blick abwendet und leicht die Position verändert, um den Abstand zwischen uns zu vergrößern.
«Ich glaube nicht, dass ich ein Wesen aus Licht bin. Was du gesehen hast, nennt sich himmlischer Glanz. Es ist schwer zu erklären, aber es geht darum, dass man mit anderen kommuniziert, mit anderen verbunden ist.»
«Kommunikation. Du hast versucht, mit mir zu kommunizieren?»
«Nicht absichtlich», sage ich und werde rot. «Ich habe nicht gewollt, dass es passiert. Ehrlich gesagt hab ich das vorher noch nie gemacht. Meine Mutter hat gesagt, dass es manchmal von starken Gefühlen ausgelöst wird.» Ich gerate ins Schwafeln. «Tut mir leid. Ich wollte dich nicht erschrecken. Der Glanz hat aber nun mal diese Wirkung auf Menschen.»
«Und du bist kein Mensch», sagt er tonlos.
«Ich bin zum größten Teil Mensch.»
Tucker lehnt sich gegen die Wagentür und seufzt frustriert. «Das ist ein Scherz, oder, Clara? Ist das irgend so ein Trick?»
«Ich gehöre zu den Nephilim », erkläre ich ihm. «Diesen Begriff benutzen wir für gewöhnlich nicht, denn es ist das hebräische Wort für ‹gefallen›, und als Gefallene sehen wir uns nicht gern, weißt du, aber so werden wir in der Bibel genannt. Wir ziehen die Bezeichnung Engelblut vor.»
« Engelblut », wiederholt er.
«Meine Mutter ist ein Halbengel. Ihr Vater war ein Engel, und ihre Mutter war menschlich. Und das macht mich zu einem Viertelengel, denn mein Vater ist total normal, ein schlichter Durchschnittstyp.»
Die Worte sprudeln aus mir heraus, ehe ich mich besinnen kann. Tucker starrt mich an, als wäre mir ein zweiter Kopf gewachsen.
«Du bist also ein Engel.» Das sagt er genauso wie ich damals, als meine Mutter es mir erzählte, genauso als ginge er im Kopf schon mal die Liste der nahe gelegenen psychiatrischen Anstalten durch.
«Ja. Lass uns ein Stück gehen.»
Seine Pupillen weiten sich etwas. «Wieso?»
«Weil du mir nicht glaubst, ehe ich es dir nicht gezeigt habe.»
«Was soll das heißen? Machst du wieder diese Sache mit dem Licht?»
«Nein. Das mache ich nicht wieder.» Sacht lege ich ihm die Hand auf den Arm, in dem Versuch, ihn zu beruhigen. Meine Berührung hat jedoch den gegenteiligen Effekt. Schnell zieht er den Arm zurück, öffnet die Autotür und springt aus dem Truck, nur um von mir wegzukommen.
Ich steige ebenfalls aus. Dann stelle ich mich mitten auf die Lichtung und sehe ihn an.
«Und jetzt hab keine Angst», sage ich.
«Natürlich nicht. Denn jetzt wirst du mir zeigen, dass du ein Engel bist.»
«Ein Viertelengel.»
Ich lasse meine Flügel erscheinen und drehe mich hin und her, um sie ihm zu zeigen. Ich breite sie nicht aus, und ich fliege auch nicht, so wie Mama es gemacht hat, um es mir zu beweisen. Es reicht, wenn er sie auf meinem Rücken sieht.
«Heilige Scheiße.» Er macht einen Schritt zurück.
«Ich weiß.»
«Das ist gar kein Scherz. Das ist keine Illusion, auch kein Zaubertrick. Du hast wirklich
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