Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)
kanntest? Wann wusstest du – mit absoluter Gewissheit –, was du tun musstest?»
«Ich wusste es nicht.» Ein paar Sekunden lang ist ihr Blick umwölkt, dann wird ihr Ausdruck wieder sehr reserviert, ihr Körper versteift sich bis rauf zum Gesicht. Sie denkt, sie hat schon zu viel gesagt. Mehr werde ich von ihr nicht erfahren.
Ich seufze.
«Wieso kannst du es mir nicht einfach sagen, Mama?»
«Ich habe gemeint», fährt sie fort, als hätte sie meine Frage gar nicht gehört, «dass ich es nie mit absoluter Gewissheit wusste. Der ganze Vorgang ist für gewöhnlich sehr intuitiv.»
Wir hören einen Schwall Musik, als Jeffrey aus seinem Zimmer kommt, mit seinen großen Füßen den Flur entlangtrampelt und ins Bad geht. Als ich Mama wieder ansehe, ist sie wie immer unbeschwert und fröhlich.
«Manches musst du eben einfach vertrauensvoll hinnehmen», sagt sie.
«Ja, ja, ich weiß», antworte ich resigniert. Ich spüre einen dicken Kloß in meinem Hals. Ich würde gern noch so viele Fragen stellen. Aber sie antwortet ja nie. Sie will mich einfach nicht in ihre Engelwelt lassen, und ich begreife nicht, wieso.
«Ich sollte jetzt schlafen», sage ich. «Morgen halten wir das große Referat in Englischer Geschichte.»
«Na schön», meint sie.
Sie wirkt erschöpft. Unter den Augen hat sie violette Schatten. Mir fallen sogar ein paar feine Fältchen in den Augenwinkeln auf, die ich vorher noch nie gesehen habe. Inzwischen könnte man sie für Mitte vierzig halten, was immer noch unglaublich ist, wenn man bedenkt, dass sie einhundertundachtzehn Jahre alt ist. Aber so übermüdet habe ich sie noch nie gesehen.
«Alles in Ordnung mit dir?», frage ich. Ich nehme ihre Hand. Ihre Haut ist kühl und feucht, was mich erschreckt.
«Mir geht’s gut.» Sie zieht ihre Hand weg. «Es war eine lange Woche.»
Sie steht auf und geht zur Tür.
«Bist du so weit?» Sie streckt die Hand nach dem Lichtschalter aus.
«Ja.»
«Gute Nacht», sagt sie und macht das Licht aus.
Einen Moment lang bleibt sie an der Tür stehen, das Licht vom Flur zeichnet ihre Silhouette nach.
«Ich hab dich lieb, Clara», sagt sie. «Vergiss das nie, ja?»
Ich würde am liebsten weinen. Wie haben wir es nur geschafft, uns in so kurzer Zeit so weit voneinander zu entfernen?
«Ich hab dich auch lieb, Mama.»
Dann geht sie raus und macht die Tür zu, und ich bin allein im Dunkeln.
«Noch eine Schicht», sagt Angela. «Dein Haar ist so … widerspenstig!»
«Hab ich dir doch gesagt», meine ich.
Sie sprüht mir eine weitere Giftwolke Haarspray auf den Kopf. Ich huste. Als meine Augen nicht mehr tränen, schaue ich in den Spiegel. Königin Elisabeth starrt zurück. Zum Lachen ist ihr offensichtlich nicht zumute.
«Ich glaube, wir könnten tatsächlich eine Eins kriegen.»
«Bestand daran je auch nur der leiseste Zweifel?», meint Angela und schiebt sich die Brille hoch. «Ich werde reden, denk dran, ja? Du musst einfach nur dastehen und hübsch aussehen.»
«Du bist witzig», brummele ich. «Das ganze Zeug hier muss an die hundert Pfund wiegen.»
Sie verdreht die Augen.
«Wart mal eben», sage ich. «Seit wann trägst du denn eine Brille? Du siehst doch einwandfrei.»
«Das ist mein Kostüm. Du spielst die Königin. Ich spiele die eifrige Einserschülerin, die alles weiß, was es über das elisabethanische Zeitalter zu wissen gibt.»
«Oh, Mann. Du bist echt krank, weißt du das?»
«Ach, komm schon», sagt sie. «Gleich ertönt der Gong.»
Die anderen Schüler machen Platz, um mich durchzulassen, als ich Angela den Korridor runter folge. Ich versuche zu lächeln, als sie auf mich deuten und flüstern. Unmittelbar vor unserem Klassenzimmer bleiben wir stehen. Angela dreht sich um und fängt an, an meinem Kleid rumzuhantieren.
«Hübsche Halskrause», zieht sie mich auf.
«Du schuldest mir was.»
«Warte hier.» Sie sieht ein klitzekleines bisschen nervös aus. «Ich werde dich ankündigen.»
Sie schlüpft ins Klassenzimmer, und ich stehe auf dem Korridor, horche und warte, und auf einmal rast mein Herz. Ich höre Angela sprechen und Mr Erikson antworten. Die Klasse lacht über etwas, das er sagt. Ich luge durch das winzige rechteckige Fensterchen in der Tür. Angela steht vor der Klasse und zeigt auf das Poster, auf dem wir eine Chronologie von Königin Elisabeths Leben zusammengestellt haben. Nach dem Tod von Elisabeths Halbschwester Königin Mary Tudor wird sie mich ankündigen. Das wird jeden Moment der Fall sein. Ich hole
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