Unearthly. Heiliges Feuer (German Edition)
Schwarzflügel eben böse sind und deshalb gern böse Sachen machen, zum Beispiel diejenigen zu beseitigen, die den guten Menschen etwas bedeuten.
Das ist es, was mir Angst macht. Aber auch diesmal ist das Gefühl von Kummer verschwunden, ehe Mama eintrifft. Als wäre nichts gewesen. Als wenn alles nur in meiner Vorstellung passiert wäre.
Ein paar Tage später zeigt uns Jeffrey im Engelclub einen Trick; er kann eine Vierteldollarmünze nur mit den Fingern verbiegen. Das müssen wir anderen natürlich sofort auch probieren, zuerst ich, und Jeffrey findet es gar nicht so toll, dass es mir gleich gelingt; dann Angela, die sich so sehr anstrengt, dass ihr Gesicht ganz lila wird und ich schon denke, sie wird jeden Moment ohnmächtig; dann Christian, der es auch nicht schafft.
«Offenbar nicht so ganz meins», sagt er. «Aber ziemlich beeindruckend.»
«Könnte erblich sein», folgt Angelas Theorie. «Etwas, das bei dir und Jeff in der Familie liegt.»
Jeffrey schnaubt verächtlich. «Ja klar. Ein Münzenverbiege-Gen.»
Ich denke, worin liegt denn der Nutzen beim Münzenverbiegen? Was für eine sinnvolle Eigenschaft soll das denn sein? Und plötzlich fühle ich mich, als würde ich am liebsten weinen. Ohne jeden erkennbaren Grund. Bums – Tränen.
«Was ist los?», fragt Christian sofort.
«Kummer», krächze ich.
Wir rufen meine Mutter an. Diesmal reagiert Angela total übertrieben, denn es ist ihr Zuhause, und es ist einfach scheiße, wenn man sich in seinem eigenen Zuhause nicht sicher fühlt. Zehn Minuten später steht meine Mutter auf der Matte, total außer Atem. Diesmal wirkt sie nicht sonderlich besorgt. Einfach nur müde.
«Spürst du es immer noch?», fragt sie mich.
«Nein.» Was bedeutet, dass ich mir jetzt gerade sehr dumm vorkomme.
«Vielleicht hängt es ja mit deiner Empathie zusammen», sagt Angela zu mir, als sie mich zum Ausgang des Theaters bringt. «Vielleicht klinkst du dich bei anderen Leuten um dich herum ein, die gerade traurig sind.»
Ich denke, das könnte gut möglich sein.
Es stellt sich heraus, dass meine Mutter eine andere Theorie hat. Das erfahre ich noch am selben Abend, als sie in mein Zimmer kommt und mir gute Nacht sagen will. Es schneit immer noch, es schneit seit dem Abend, an dem Midas zurückgekommen ist; dicke Flocken fallen schräg vor meinem Fenster herab. Es wird eine kalte Nacht.
«Tut mir leid, dass ich andauernd, du weißt schon, falschen Alarm gebe», sage ich zu meiner Mutter.
«Ist schon in Ordnung», antwortet sie, aber ihre Miene ist verkniffen, was ihr garantiert ein paar neue Falten beschert.
«Besonders besorgt scheinst du nicht deswegen», stelle ich fest. «Wie kommt das?»
«Ich hab es dir doch erklärt», sagt sie. «Ich rechne nicht damit, dass Sam uns so bald schon verfolgt.»
«Aber diesen Kummer spüre ich wirklich. Jedenfalls glaube ich, dass es dieser Kummer ist, wenn es gerade passiert. Hat das denn nichts zu bedeuten?»
«Doch, es hat etwas zu bedeuten.» Sie seufzt. «Aber möglicherweise spürst du nicht den Kummer eines Schwarzflügels.»
«Du meinst, es ist der Kummer von jemand anderem?»
«Es könnte dein eigener sein», sagt sie und sieht mich wieder mit diesem irgendwie ernüchterten Blick an.
Einen kurzen Moment habe ich das Gefühl, als wäre die ganze Luft aus dem Zimmer gewichen. «Mein eigener?»
«Schwarzflügel verspüren Kummer, weil sie gegen ihre Bestimmung handeln. So ergeht es uns auch.»
Ich bin perplex. Echt, mir fehlen die Worte.
«Was Schwarzflügel spüren, ist viel, viel intensiver», fährt sie fort. «Sie haben beschlossen, sich von Gott zu trennen, und das verursacht ihnen einen beinah unerträglichen Schmerz.»
Ich kann nicht mehr zurück. Das hat Samjeeza an dem Tag immer wieder gedacht. Ich kann nicht mehr zurück.
«Bei uns ist es etwas subtiler und auch sporadischer», sagt sie. «Aber es passiert.»
«Also», würge ich nach einer Weile heraus, «du denkst, ich spüre diesen Kummer, weil ich … weil ich meine Aufgabe nicht erfüllt habe?»
«Woran denkst du gerade, wenn es passiert?», fragt sie.
Ich sollte ihr von dem Traum erzählen. Dem Friedhof. Von allem. Aber mir bleiben die Worte im Halse stecken.
«Ich weiß nicht.» Und das stimmt. Ich erinnere mich nicht genau an das, was ich jeweils gerade gedacht habe, aber wenn ich raten sollte, würde ich sagen, es ging um Tucker und meinen Traum und darum, dass ich es nicht so weit kommen lassen werde.
Ich kämpfe gegen meine
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