Unearthly. Heiliges Feuer (German Edition)
reicht er uns bis zu den Knien. Innerhalb von wenigen Minuten bin ich durchgefroren bis auf die Knochen und zittere so heftig, dass sich mein Pferdeschwanz aus der Spange löst. Plötzlich rutscht Angela neben mir aus und fällt und ist jetzt total mit Schnee bedeckt. Ich strecke die Hand aus, um ihr aufzuhelfen.
«Ich wette, du wünschst, du hättest ein bisschen länger überlegt, ob du mit auf diese wahnwitzige Zelttour kommst», sage ich mit klappernden Zähnen. Angelas Nase und ihre Wangen sind knallrot, und in Kombination mit ihrem dichten schwarzen Haar lässt sie das beinahe wie einen Clown aussehen.
«Und dabei heißt es, wir sollen immun gegen Kälte sein», sagt sie und zieht die Augenbrauen zusammen, als könne sie einfach nicht fassen, wieso es nicht funktioniert.
Vor uns bricht Mama in schallendes Gelächter aus.
«Also weißt du, Angela», sagt sie, und das durchaus einigermaßen liebevoll, «manchmal redest du ganz schönen Blödsinn.»
Vor Schreck bleibt Angela einen Moment lang der Mund offen stehen, aber dann lacht Mama wieder, und es steckt uns alle an, auch Angela.
«Ich hab das in einem Buch gelesen», protestiert sie. «Ernsthaft.»
«Wenn du auf den himmlischen Glanz zurückgreifst», erklärt Mama. «Der Glanz hält dich warm. Ansonsten, und da bin ich mir ziemlich sicher, könntest du durchaus erfrieren.»
«Wie jetzt zum Beispiel», falle ich mit ein.
«Na schön», sagt Angela verlegen. «Das muss ich mir aufschreiben. Gleich wenn ich meine Hände wieder benutzen kann.»
«Es ist nicht mehr weit», verspricht Mama. «Halt noch ein bisschen durch.»
Und nach weiteren zehn Minuten mühseligem Voranstapfen durch den Schnee tief im Wald lässt Mama uns tatsächlich stehen bleiben. Sie hebt den Kopf und saugt die Luft ein, lächelt irgendwie heiter und gelassen, dann gibt sie Jeffrey die Anweisung, sich scharf nach rechts zu wenden.
«Da», sagt sie und deutet auf eine schmale, tief eingeschnittene Schlucht ein bisschen weiter den Berg hinunter. «Da müssen wir durch.»
Jeffrey geht voraus und führt uns den rutschigen Pfad entlang, bis er so plötzlich stehen bleibt, dass Mama beinahe gegen ihn stößt. Sein Rucksack gleitet ihm von der Schulter. Mama lächelt, auf ihrem Gesicht ein erschöpfter, aber genüsslicher Ausdruck, und tritt beiseite, um Angela und mich vorbeizulassen, damit wir sehen, was die beiden betrachten. Da bleiben auch wir abrupt stehen, der Mund klappt uns auf, und auch unsere Rucksäcke gleiten zu Boden.
«Ach, du heilige Scheiße», keucht Jeffrey.
O ja. «Heilige Scheiße» trifft es irgendwie ganz genau.
Vor uns liegt eine Art Wiese, ein weitläufiges, flaches Stück Land. Auf zwei Seiten von Bergen umgeben, grenzt es nach vorn an einen wunderschönen, glitzernden See, der so klar ist, dass sich die Landschaft darin perfekt spiegelt. Ein paar Meter vor uns hört der Schnee auf und wird von hohem, weichem Gras abgelöst, das so grün ist, dass sein Anblick nach so vielen Stunden Weiß auf Weiß dem Auge beinahe weh tut. Hier schneit es nicht. Die Sonne versinkt hinter dem weit entfernten Berg, und der Himmel leuchtet in einer Farbenpracht von Orange- und Blautönen. Vögel flattern über der Wiese hin und zurück, als könnten sie nicht glauben, dass sie hier, mitten im Nichts, auf dieses Paradies gestoßen sind.
Doch es ist nicht die Wiese, die wir anstaunen. Was uns drei (Mama natürlich nicht, denn offenbar weiß sie bestens Bescheid) dümmlich in den Sonnenschein starren lässt, ist die Tatsache, dass die Wiese übersät ist von Zelten. Etwa zwei Dutzend Leute tummeln sich dort in munterem Durcheinander, einige machen Feuer, andere angeln auf dem See, wieder andere stehen oder sitzen oder liegen einfach nur im Gras und unterhalten sich.
Eine Frau erregt vor allem meine Aufmerksamkeit; ihre Haut schimmert wie Mahagoni, sie hat langes glänzend schwarzes Haar, ein Gesicht wie die berühmte indianische Kundschafterin Sacagawea auf dem Golddollar. Und hinter ihrem Rücken leuchten zwei atemberaubende, wie eine prachtvolle weiße Robe gefaltete Flügel.
«Das hier», sagt Mama und deutet auf die Wiese, «nennt man eine Kongregation. Eine Versammlung von Engelblutwesen.»
«Congregarium celestial» , haucht Angela.
Die Dame mit den Flügeln sieht uns und winkt. Mama winkt zurück.
«Das ist Billy», erklärt sie. «Na los, kommt.» Sie legt ihren Mantel ab und auch die anderen Wintersachen, bis sie nur noch ihr Flanellhemd und die Jeans trägt. Dann
Weitere Kostenlose Bücher