Unearthly. Heiliges Feuer (German Edition)
Aufgabe.
Was bedeutet, dass ich gegen meine Bestimmung handle.
Es ist mein eigener Kummer.
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Auf zum Wandern
Am nächsten Morgen liegt gut ein halber Meter Schnee. Unser Garten ist ein richtiges Winterwunderland; er liegt unter einer sauberen weißen Decke, die alle Geräusche zu dämpfen scheint. Das ist typisch für Wyoming, habe ich gelernt. Den einen Tag ist es noch Herbst, rotes Laub fällt von den Bäumen, Eichhörnchen rennen hektisch herum und vergraben Eicheln, der Geruch nach Rauch liegt in der Luft, weil die Leute ihre Kamine angeheizt haben. Dann, beinahe über Nacht, ist es Winter. Weiß und geräuschlos. Und richtig schrecklich kalt.
Mama ist unten und brät Speck. Sie lächelt, als sie mich sieht.
«Setz dich», sagt sie. «Ich hab dir schnell was zum Frühstück gemacht.»
«Du bist ja so fröhlich heute Morgen», bemerke ich, was ich nach unserer Unterhaltung in der Nacht doch recht seltsam finde.
«Wieso sollte ich nicht? Es ist ein herrlicher Tag.»
Ich entdecke Jeffrey in der Küche, der an der Theke sitzt und genauso halbwach wirkt, wie ich mich fühle.
«Sie ist übergeschnappt», erklärt er mir nüchtern, als ich mich neben ihn setze.
«Ist mir nicht neu.»
«Sie sagt, wir gehen heute raus zum Zelten.»
Ich wirbele herum und sehe Mama an, die schwungvoll Pfannkuchen wendet und dabei pfeift; das darf doch wohl nicht wahr sein!
«Mama?», wage ich mich vor. «Hast du den Schnee da draußen gesehen?»
«Was macht schon so ein bisschen Schnee?», erwidert sie, und es liegt ein besonderer Glanz in ihren leuchtenden blauen Augen.
«Ich hab’s doch gesagt», meint Jeffrey. «Übergeschnappt.»
Kaum sind wir mit dem Frühstück fertig, dreht sich Mama zu uns um, und sie kommt mir vor wie die Direktorin eines Kreuzfahrtschiffs, die ihre Passagiere auf den vor ihnen liegenden Tag einstimmt.
«Wie wäre es, Clara, wenn du dich um die Verpflegung kümmerst? Und Jeffrey, du packst alles in den Wagen. Ich muss noch ein paar Sachen erledigen, bevor wir fahren. Und ihr packt beide fürs Wochenende. Zieht euch warm an, aber nach dem Zwiebelprinzip, nur für den Fall, dass es wärmer wird. Ich will so gegen zehn Uhr los. Wir werden ein paar Stunden wandern.»
«Aber Mama», platze ich heraus. «Ich kann dieses Wochenende nicht raus zum Zelten.»
Sie fixiert mich mit festem, ernsthaftem Blick. «Wieso? Willst du zu Hause bleiben und dich dann zu Tucker schleichen?»
«Durchschaut», sagt Jeffrey lachend.
Ich schätze, ich war neulich nicht so leise, wie ich gedacht hatte, als ich mich aus dem Haus geschlichen habe.
«Ich sitze vorne», ruft Jeffrey, und damit ist das Thema erledigt.
Gegen zehn Uhr sind wir also alle geduscht, haben uns angezogen, haben gepackt, alles im Wagen verstaut, und die Heizung ist voll aufgedreht. Mama reicht mir eine Thermoskanne mit heißer Schokolade nach hinten. Immer noch ist sie unnatürlich gut gelaunt. Sie stellt den Motor auf Allradantrieb und schaltet die Scheibenwischer ein, um den Schnee wegzuwischen, der immer noch beständig fällt, und dabei summt sie zum Radio, als sie nach Jackson reinfährt. Dann hält sie vor dem Pink Garter .
«Also schön, Clara», sagt sie und lächelt schelmisch. «Raus mit dir.»
Ich bin verwirrt.
«Hol Angela. Sag ihr, sie soll eine Tasche fürs Wochenende packen.»
«Weiß sie, dass ich komme?», frage ich. «Ist ihr klar, dass sie im Tiefschnee auf eine wahnwitzige Zelttour geht?»
Mamas Lächeln wird noch breiter. «Ausnahmsweise hat Angela einmal keine Ahnung. Aber sie wird nur allzu gern mitkommen, ich habe da so ein Gefühl.»
Ich gehe zum Eingang des Theaters und klopfe an die Tür. Angelas Mutter macht auf. Der Blick aus ihren dunklen Augen schießt sofort an mir vorbei zu meiner Mutter, die inzwischen aus dem Auto gestiegen ist und auf uns zukommt. Einen Moment lang wirkt Anna Zerbino, als würde sie gleich in Ohnmacht fallen. Ihr Gesicht nimmt einen halb erschrockenen, halb ehrfürchtigen Ausdruck an, ihre Hand fährt unwillkürlich hoch an das goldene Kruzifix, das sie um den Hals trägt. Offenbar hat Angela sie darüber aufgeklärt, dass meine Familie aus Wesen mit Engelblut besteht, und Anna Zerbinos Erfahrung sagt ihr, dass man solche wie uns fürchten und anbeten muss.
«Hallo, Anna», sagt meine Mutter mit ihrer nettesten, lieblichsten, vertrauenswürdigsten Stimme. «Ob ich mir wohl Ihre Tochter für ein paar Tage ausleihen darf?»
«Es hat sicher mit Engeln zu tun, ja?»,
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