Unearthly. Heiliges Feuer (German Edition)
sich. Dann wirft sie sich den langen Pferdeschwanz über die Schulter nach hinten, knallt das Tagebuch zu und legt sich hin, mit dem Rücken zu mir. Die Taschenlampe erlischt. Wir liegen da im Dunkeln, über uns die Sterne, das Flüstern der Bäume. Es ist viel zu still. Angela sagt nichts, aber ich spüre, dass sie noch nicht schläft. Ihr Atem geht holprig, und ich weiß, sie ist wütend.
«Ange …», sage ich, als das Schweigen unerträglich wird. «Du hast ja recht, entschuldige. Ich bin das alles auch so leid, diese ganzen Geheimnisse. Manchmal habe ich das Gefühl, niemand um mich herum ist wirklich aufrichtig zu mir. Das macht mich richtig krank.»
«Nein, nein, du hast recht», sagt sie nach einer Weile, und ihre Stimme klingt gedämpft durch den Schlafsack. «Christian hat ja tatsächlich nie zugesagt, dass er uns alles erzählen will. Dieser Ort hier ist Geheimsache, das ist mir schon klar.»
«Hast du gerade gesagt, ich habe recht?», frage ich so feierlich wie möglich.
«Ja. Und?»
«Nichts. Aber ich werde es mir aufschreiben oder so. Nur für den Fall, dass ich so was von dir nie wieder zu hören kriege.»
Sie dreht sich halb um und wirft mir über die Schulter ein Grinsen zu. «Nur zu, das solltest du wirklich tun, denn es ist tatsächlich höchst unwahrscheinlich, dass du je wieder recht haben wirst.»
Damit ist der Streit offiziell beendet. Was eine Erleichterung ist, denn Angela kann ganz schön nervtötend sein, wenn sie wütend ist.
«Die Geheimniskrämerei gehört zum Leben als Engelblut», sagt sie, gerade als ich kurz vor dem Einschlafen bin. «Das ist dir doch klar, oder?»
«Was?», frage ich schläfrig.
«Ewig müssen wir uns verstecken. Vor den Schwarzflügeln, vor dem Rest der Welt. Nimm deine Mutter zum Beispiel. Sie ist weit über hundert, sieht aber aus wie vierzig, was bedeutet, dass sie andauernd umziehen musste, damit die Leute nicht merken, dass sie nicht wie normale Menschen altert. Immer wieder musste sie eine andere Identität annehmen. Mit der Zeit wird einem die Geheimniskrämerei wohl zur zweiten Natur, meinst du nicht?»
«Aber ich bin ihre Tochter. Mir kann sie doch vertrauen. Sie sollte mir so was einfach erzählen.»
«Vielleicht kann sie nicht.»
Eine Weile denke ich darüber nach und muss wieder an ihre Angst denken, die ich vorhin am Lagerfeuer gespürt habe. Angst wovor?, frage ich mich. Was ist so beängstigend daran, wenn wir von der Hölle sprechen? Vom Offensichtlichen mal ganz abgesehen. Und wieso hat sie der Kongregation nicht erzählt, was mit Samjeeza passiert ist?
«Meinst du wirklich, sie ist die Anführerin der Kongregation?», frage ich.
«Ich halte das für sehr wahrscheinlich», antwortet Angela.
Dann wird mir noch etwas klar: Meine Mutter kennt Walter Prescott, Christians Onkel. Und das kann nur eines bedeuten: Schon an dem Tag, als ich nach Hause kam und Christians Namen nannte, muss sie gewusst haben, dass er mehr ist als nur ein Junge, den ich vor einem Waldbrand retten soll. Die ganze Zeit hat sie gewusst, dass Christian ein Engelblut ist. Sie hat gewusst, dass meine Aufgabe mehr ist als nur eine simple Such- und Rettungsaktion.
Sie hat es gewusst.
«Wieso hat sie es mir nicht gesagt?», flüstere ich. Auf einmal hält sich mein schlechtes Gewissen, dass ich ihr nichts vom Engelclub erzählt habe, sehr in Grenzen.
«Jetzt wird dir allmählich einiges klar, was?», flüstert Angela zurück.
«Sieht so aus.»
«Sie könnte einen guten Grund haben», sagt Angela.
«Das sollte sie lieber auch», erwidere ich.
Es dauert lange, bis ich endlich einschlafe.
Ich träume von Rosen, deren Blütenränder schon bräunlich werden. Ich stehe vor einem Hügel frisch aufgeschütteter Erde, starre runter auf Mamas schöne schwarze Pumps an meinen Füßen, und ich halte Rosen in den Händen. Ihr süßlicher Duft steigt mir in die Nase. Ich spüre die Gegenwart anderer Leute um mich herum, aber ich schaue nicht auf von dem unbefestigten Pfad. Diesmal spüre ich nicht so sehr den Kummer, viel mehr eine Art innere Leere. Ich bin wie betäubt. Der Wind zerzaust mein Haar, weht es mir ins Gesicht, aber ich streiche es nicht nach hinten. Ich stehe da, halte die Rosen, starre auf das Grab.
Der Tod ist ein Übergang, sage ich mir, der Wechsel von einer Daseinsebene auf eine andere. Er ist nicht das Ende der Welt.
Das hat Mama immer zu mir gesagt. Aber ich nehme an, es hängt davon ab, wie man das Ende der Welt definiert.
Die Rosen welken. Sie
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