Unearthly. Heiliges Feuer (German Edition)
Text auseinandersetzt. Spür die Worte tief in dir, hör sie nicht einfach nur im Kopf. Doch ach, wie tief gefallen! Wie verändert / jener nun, der im glücklichen Reiche des Lichts, / gekleidet in erhabenem Glanze / Myriaden von Glänzenden überstrahlte» , zitiert er aus dem Gedächtnis. «Wunderschöne Worte. Aber was wollen sie uns sagen?»
«Er spricht von dem Engel, der er früher einmal gewesen ist», sagt Angela ganz vorn. Die ganze Stunde hat sie noch kein Wort gesagt, wir beide nicht, aber jetzt wird es ihr offenbar zu viel; sie kann einfach nicht still dasitzen und schweigen, wenn er über Engel redet. «Er beklagt seinen tiefen Fall, denn auch wenn er lieber die Regeln in der Hölle aufstellen als Gott im Himmel gehorchen würde, wie er sagt, empfindet er doch Kummer, denn jetzt befindet er sich …» Sie sieht in ihre Milton-Ausgabe und zitiert: «… in tiefster Dunkelheit … / so weit entfernt von Gott und Himmelslicht, / wie dreimal so weit der Mittelpunkt der Welt vom entlegensten Pol . Ich weiß ja nicht, wie weit das tatsächlich ist, aber es hört sich nach einer ziemlich großen Entfernung an.»
«Hast du das so in dir gespürt?»
«Äh …» Angela ist ein Kopf-, kein Bauchmensch. «Ich weiß nicht so genau.»
«Na ja, jedenfalls eine kluge Interpretation», meint er. «Denkt daran, was John Milton uns zu Beginn seines Werkes sagt. Sein Ziel ist es, die Vorstellung vom Ungehorsam gegen Gott zu erforschen, sowohl in der Rebellion der gefallenen Engel als auch im Herzen des Menschen, was zu Adams und Evas Vertreibung aus dem Garten Eden führte …»
Unruhig rutsche ich auf meinem Stuhl hin und her. Die Vorstellung vom Ungehorsam gegen Gott will ich gar nicht erforschen. Es ist für mein Bauchgefühl im Moment so gar nicht das richtige Thema, denn ich bin ziemlich entschlossen, gegen meine Aufgabe anzukämpfen.
«Ich habe eine Frage, Mr Phibbs», sagt da Angela.
«Wunderbar», meint er. «Beurteile einen Menschen eher nach seinen Fragen als nach seinen Antworten.»
«Okay. Wie alt sind Sie?», fragt sie.
Er lacht.
«Nein, ganz im Ernst. Wie alt?», beharrt sie.
«Das hat mit unserem Thema nun wirklich nichts zu tun», kommt knapp seine Antwort, und ich sehe, dass sie ihn an einem wunden Punkt erwischt hat, obwohl ich nicht weiß, wieso. Er streicht sich das weiße Haar aus dem Gesicht und spielt mit dem Stück Kreide in seiner Hand. «Wir wollen jetzt doch lieber zu Satan und seiner Misere zurückkehren, ja?»
«Ich will doch nur wissen, ob Sie so alt sind wie Milton», sagt Angela und stellt sich dumm, auf ekelhaft verspielte Weise, als ob sie ihn aufziehen will, als ob es gar keine ernsthafte Frage sein sollte, obwohl es das ja ist. «Ich meine, sind Sie mal mit ihm um die Häuser gezogen?»
Wenn ich mich an das erinnere, was Mr Phibbs uns vergangene Woche erzählt hat, dann ist Milton im Jahr 1674 gestorben. Wenn Mr Phibbs also mal mit Milton um die Häuser gezogen sein sollte, müsste er weit über dreihundertfünfzig Jahre alt sein.
Ist das möglich? Ich betrachte ihn, sehe auf seine stellenweise schlaffe Haut, die vielen tiefen Falten auf seiner Stirn, um die Augen und um den Mund herum. Seine Hände sehen ein bisschen aus wie knorrige alte Bäume. Er ist eindeutig alt. Aber wie alt?
«Ich wünschte, ich hätte dieses Vergnügen gehabt», meint Mr Phibbs da mit einem tragischen Seufzer. «Aber leider lebte Milton ein bisschen vor meiner Zeit.»
Es klingelt zur Pause.
«Ah», sagt er und fixiert mit seinen blauen Augen Angelas Gesicht. «Vom Pausengong gerettet.»
In der Nacht schleiche ich mich raus und fliege zur Lazy Dog Ranch. Ich kann einfach nicht anders. Vielleicht liegt es in meiner Engelnatur. Mit Schnee im Haar sitze ich draußen vor Tuckers Fenster, und ich beobachte ihn, erst wie er an seinen Hausaufgaben arbeitet, dann wie er sich fürs Bett fertig macht (und nein, ich bin kein Spanner, ich drehe mich um, als er sich auszieht), und dann, wie er einschläft.
Wenigstens in diesem Moment ist er in Sicherheit.
Wieder überlege ich, ob ich ihm von meinem Traum erzählen soll – ich finde es einfach schrecklich, das vor ihm zu verheimlichen. Ich habe das Gefühl, dass er es wissen sollte. Schließlich bin ich furchtbar wütend auf meine Mutter wegen der ganzen Geheimnisse, die sie vor mir hat, dabei bin ich im Grunde genauso? Ich hüte dieses Geheimnis, weil ich ihn nicht unnötig beunruhigen will; schließlich könnte ich meine Vision
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