Unearthly. Heiliges Feuer (German Edition)
brauchen Wasser, und auf einmal ertrage ich den Gedanken nicht, sie hierzulassen, wo sie vertrocknen und sterben werden. Also zerdrücke ich sie in meinen Händen. Ich reiße die Köpfe ab, und dann lasse ich die Blütenblätter durch meine Finger rieseln, und sie fallen sehr langsam, ganz sacht, auf die schwarze Erde.
Christian steht im Mondlicht am See. Ich beobachte ihn dabei, wie er sich bückt, einen Stein aufnimmt, den glatten Stein ein paar Mal in den Händen dreht, ehe er sich aufrichtet und ihn übers Wasser hüpfen lässt.
Immer wenn ich ihn sehe, wird mir bewusst, dass ich ihn eigentlich gar nicht kenne. Trotz all unserer gemeinsamen Gespräche, trotz der im Engelclub zusammen verbrachten Zeit, trotz der Tatsache, dass ich mir vergangenes Jahr jede Einzelheit über ihn eingeprägt habe wie eine Stalkerin, ist er mir immer noch ein Rätsel. Er ist immer noch der Fremde, auf den ich nur gelegentlich mal einen kurzen Blick werfen kann.
Er dreht sich um und sieht mich an.
«Hallo», sage ich verlegen, denn auf einmal wird mir klar, dass ich im Schlafanzug dastehe und mein Haar wie ein Vogelnest aussehen muss. «Tut mir leid. Ich hatte keine Ahnung, dass jemand hier draußen ist.»
«Kannst du nicht schlafen?», fragt er.
Ich habe immer noch den Rosenduft in der Nase. An den Händen spüre ich noch die Dornen, aber als ich meine Hände ansehe, sind sie unversehrt. Es ist alles nur in meinem Kopf. Ich treibe mich selbst in den Wahnsinn.
«Angela schnarcht», sage ich, statt alles zu erklären. Ich bücke mich und suche auch nach einem Stein, den ich übers Wasser werfen kann, finde einen – einen kleinen flachen Stein, der die Farbe von Holzkohle hat. Ich blicke auf den See hinaus, wo sich das Mondlicht kräuselt. «Also wie macht man das nun?», frage ich.
«Der Trick ist die Bewegung aus dem Handgelenk heraus», antwortet er. «Wie beim Frisbee.»
Ich werfe den Stein, und er geht ohne jegliches Aufspritzen sofort im Wasser unter.
«Das war Absicht», sage ich.
Er nickt. «Klar. Gute Haltung, übrigens.»
«Irgendetwas stimmt nicht an diesem Wetter», sage ich.
«Ach ja?»
«Nein, ich meine, irgendwas fehlt. Es fühlt sich an wie Sommer, außer …» Ich denke an meine langen Nächte mit Tucker im vergangenen Sommer, in denen wir auf der Ladefläche seines Pick-up lagen und die Sterne betrachteten, daran, wie wir einzelne Sternbilder erkannten und anderen, uns unbekannten, einfach Fantasienamen gaben. Die Erinnerung an Tucker schnürt mir die Kehle zu. Ich ermahne mich, daran zu denken, dass mein Traum erst im Frühling wahr werden wird. Und ich weiß nicht einmal, ob es schon im kommenden Frühjahr sein wird. Ich habe Zeit. Ich werde es schon noch herausfinden. Und es aufhalten, irgendwie.
«Die Grillen», sage ich, als es mir einfällt. «Im Sommer zirpen überall die Grillen. Aber hier ist es ganz ruhig.»
Wir horchen auf das Geräusch des Wassers, das in Wellen ans Ufer schlägt.
«Erzähl mir von deiner Vision, Clara. Der neuen, meine ich», sagt Christian da. «Wenn es dir nichts ausmacht. Ich würde es gern so von dir erfahren. Denn du denkst fast pausenlos daran, und ich kann nicht gut so tun, als würde ich es nicht merken.»
Mir stockt der Atem. «Das meiste hab ich dir schon erzählt. Es ist Aspen Hill. Frühling. Ich gehe zusammen mit diesen ganzen Leuten den Hügel hinauf, offenbar auf dem Weg zu einem Grab. Und du bist auch da.»
«Was mache ich?»
«Du … äh … du versuchst, mich zu trösten. In meinem Kopf sagst du: ‹Du schaffst das.› Du hältst meine Hand.» Ich gucke mich nach einem weiteren Stein um, damit ich ihm nicht in die Augen sehen muss.
«Du denkst, es ist Tucker. Tucker muss sterben», sagt er.
Ich nicke, ich traue mich immer noch nicht, ihn anzusehen. «Ich kann das nicht zulassen.»
Er hustet, dann macht er wieder das, was so typisch für ihn ist: Er lacht und atmet gleichzeitig aus. «Ich denke, dir ist doch wohl klar, dass du damit beschlossen hast, gegen deine Vision zu kämpfen.»
An dieser Stelle müsste ich jetzt Kummer empfinden, wenn meine Mutter recht hat. Ich kämpfe tatsächlich gegen meine Aufgabe, ich wehre mich heftig gegen alles, was offenbar von mir erwartet wird. Aber das Einzige, was ich in diesem Moment spüre, ist Wut. Auch wenn ich natürlich weiß, dass er recht hat; ich akzeptiere die Dinge einfach nicht, wie sie sind. Ich will sie nicht so lassen. Ständig versuche ich, sie zu ändern.
«He, du hast mich gefragt, und ich
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