Unearthly. Heiliges Feuer (German Edition)
einfach falsch gedeutet haben. Ich verheimliche es ihm, denn auch wenn er Bescheid wüsste, würde sich nichts ändern. Ich beschütze ihn.
Aber ganz großer Mist ist es trotzdem.
So etwa gegen halb eins wird plötzlich das Fenster aufgerissen. Ich erschrecke mich so sehr – ich war schon fast eingeschlafen –, dass ich beinahe vom Dach falle, aber ein starker Arm packt mich und hievt mich zurück aufs Fenstersims.
«Hallo da draußen», sagt Tucker fröhlich, als wären wir uns zufällig auf der Straße begegnet.
«Äh, ja, hallo.»
«Schöne Nacht, um jemandem nachzustellen», bemerkt er.
«Aber nein. Ich wollte …»
«Schwing dich schon rein, Karotte.»
Umständlich klettere ich in sein Zimmer. Er zieht sich ein T-Shirt über, setzt sich im Schneidersitz aufs Bett und sieht mich an.
«Wenn du dich freust, mich zu sehen, war es doch kein Nachstellen, oder?», schlage ich zaghaft vor.
«Wie lange bist du schon da draußen?»
«Wie lange weißt du schon, dass ich da bin?»
«Eine Stunde etwa», antwortet er. Ungläubig schüttelt er den Kopf. «Du bist echt irre, weißt du das?»
«Ich versuche gerade, genau das rauszufinden.»
«Also, wieso bist du nun wirklich hier?» Er klopft mit der Hand neben sich aufs Bett, und ich setze mich. Zärtlich legt er mir einen Arm um die Schultern.
«Ich wollte dich sehen», sage ich und kuschele mich an ihn. «Es war so ein langes, einsames Wochenende, und in der Schule habe ich dich heute auch kaum zu Gesicht gekriegt.»
«Aha. Wie war’s beim Zelten? Im Schnee war ich noch nie zelten, glaube ich», sagt er und zieht die Augenbrauen hoch. «Klingt eisig.»
«So richtig im Schnee war es nicht.» Dann erzähle ich ihm von der Kongregation. Nicht absolut alles, nicht von der Hölle oder den Schwarzflügeln oder davon, dass Mr Phibbs ein Engelblut ist, aber das meiste erzähle ich ihm. Ich weiß, meine Mutter wäre damit nicht einverstanden. Christian wäre nicht einverstanden. Und Angela wäre natürlich auch nicht einverstanden. Die Kongregation ist streng vertraulich, hat sie gesagt.
Und trotzdem erzähle ich es ihm. Weil ich nicht gerade jetzt, nicht vor Tucker, meine eigene geheime Identität ins Leben rufen will. Weil meine Liebe zu ihm das Einzige ist, dessen ich mir sicher bin. Und weil ich kein ganz so schlechtes Gewissen habe, dass ich ihm so einiges verschweige, wenn ich wenigstens in einer Sache ehrlich bin.
Die Neuigkeit von der Kongregation verkraftet er ziemlich gut.
«Klingt wie ein Zeltlager von der Kirchengemeinde», sagt er.
«Ist wohl eher eine Art Familientreffen», entgegne ich.
Er beugt sich vor und küsst mich; es ist ein sanfter, federleichter Kuss, der mich nur an der Seite meines Mundes berührt, trotzdem bin ich danach ganz atemlos.
«Ich habe dich vermisst», sagt er.
«Ich dich auch.»
Ich schlinge ihm die Arme um den Hals und küsse ihn, und alles löst sich auf. Auf einmal ist da nur noch dieser Moment, seine Lippen auf meinem Mund, suchend, seine Hände in meinem Haar, wie er mich zu sich heranzieht, unsere Körper zusammen auf dem Bett, wie wir uns zurechtrücken, damit wir einander noch näher kommen, seine Finger an den Knöpfen meines Shirts.
Ich kann ihn nicht sterben lassen.
«Du bist so warm», flüstert er.
Ich fühle mich auch warm. Ich fühle mich, als könnte ich in Flammen aufgehen, gleichzeitig leicht und schwer, und die Zeit verlangsamt sich, es scheint, als würde ich alles in einzelnen Bildern sehen. Tuckers Gesicht ganz dicht über meinem, ein winziges Muttermal direkt unter seinem Ohr, das ich bisher noch nicht bemerkt hatte, unsere Schatten an der Zimmerdecke, das Grübchen, das auf seiner Wange erscheint, wenn er lächelt, wie sein Herzschlag sich beschleunigt, sein Atem. Und was er fühlt, fühle auch ich am äußersten Rand meines Bewusstseins: Liebe und wie es ihn erregt, meine Haut unter seinen Händen zu spüren und meinen Geruch wahrzunehmen, der seinen Kopf ausfüllt …
«Clara», sagt er und atmet heftig, als er sich von mir zurückzieht.
«Ist schon okay», sage ich und ziehe seinen Kopf wieder zu mir herunter, schmiege meine Wange an seine, unsere Lippen berühren sich nicht mehr, wir spüren den Atem des anderen auf dem Gesicht. «Ich weiß, wie du darüber denkst, und ich finde das richtig süß, aber … was ist, wenn das schon alles an Glück ist, das wir kriegen? Was ist, wenn das unsere einzige Gelegenheit ist, ehe sich alles ändert? Was, wenn das hier alles ist? Sollten wir
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