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Unearthly. Heiliges Feuer (German Edition)

Unearthly. Heiliges Feuer (German Edition)

Titel: Unearthly. Heiliges Feuer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cynthia Hand
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schaffen das.»

    Beim Abendessen ist sie verändert. Nur sie und ich sitzen am Tisch, denn Jeffrey hat einen Ringerwettkampf, und sie hat darauf bestanden, dass er gehen sollte. Sie sagt nicht viel, aber irgendwie wirkt sie gelöst, die Art, wie sie aufrecht dasitzt, sodass ich jetzt erst merke, wie gebeugt sie in letzter Zeit gesessen hat, die Art, wie sie mit Appetit isst, sodass mir klar wird, dass sie in letzter Zeit an ihrem Essen nur gepickt hat. Auf einmal wirkt sie so viel stärker, als hätte nicht die Schwäche sie niedergedrückt, sondern das Geheimnis. Jetzt wissen wir Bescheid, die Last des Geheimnisses wurde ihr genommen, und für den Moment fühlt sie sich wieder so stark wie zuvor. So wird es nicht bleiben. Sie weiß, dass es so nicht bleiben wird. Aber sie ist entschlossen, den Augenblick der Normalität zu genießen.
    Seufzend legt sie die Gabel aus der Hand, dann sieht sie mich über den Tisch hinweg an und zieht die Augenbrauen hoch. Ich brauche einen Moment, ehe mir bewusst wird, dass ich ihre Gedanken lese.
    «Tut mir leid», flüstere ich.
    «Keinen Appetit auf Spaghetti?»
    Ich schaue auf meinen Teller hinunter. Mein Essen ist unberührt. «Es schmeckt gut. Es ist bloß …»
    Du stirbst, denke ich. Wie kann ich essen, wenn ich weiß, dass du stirbst und dass wir nichts dagegen tun können?
    «Darf ich aufstehen?» Ich bin schon aufgestanden, ehe sie Gelegenheit hat, die Frage zu beantworten.
    «Klar», sagt sie mit einem amüsierten Lächeln. «Ich fahre gleich zu Jeffreys Wettkampf. Willst du mit?»
    Ich schüttele den Kopf.
    «Wir können später reden, wenn du willst», bietet sie an.
    «Kann ich das auch ablehnen? Ich meine, irgendwann vielleicht, aber nicht jetzt; im Moment will ich einfach nicht darüber reden. Ist das okay?»
    «Natürlich. Wir müssen uns alle erst daran gewöhnen.»
    Ich ziehe mich in die Stille meines Zimmers zurück und schließe die Tür ab. Wie soll ich mich jemals an den Gedanken gewöhnen, dass ich meine Mutter verlieren werde? Es kommt mir so absurd vor, so völlig unmöglich – meine Mutter, die Supermama, die Jeffrey bei seinen Wettkämpfen anfeuert, die meine Tanzvorführungen auf Video aufnimmt, die Cupcakes für den Kuchenbazar von Jeffreys Ringerteam backt, ganz zu schweigen davon, dass sie mit Schwarzflügeln kämpft und mit einem einzigen Satz über Gebäude springt (na schön, sie fliegt, aber welchen Unterschied macht das schon?). Und nun stirbt sie. Ich weiß genau, was geschehen wird. Wir werden ihren Leichnam in einen Sarg legen. Und beerdigen.
    Es ist wie ein Albtraum, aus dem ich nicht aufwachen kann.
    Ich greife zum Telefon. Wähle automatisch Tuckers Nummer. Wendy geht ran.
    «Ich muss mit Tucker sprechen.»
    «Ähm, er hat sozusagen Telefonverbot.»
    «Wen, bitte», sage ich, und meine Stimme bricht. «Ich muss mit Tucker sprechen. Jetzt sofort.»
    «Ist gut.» Sie holt ihn ans Telefon. Ich höre, wie sie ihm sagt, dass mit mir anscheinend irgendwas nicht in Ordnung ist.
    «He, Karotte», sagt er ins Telefon, «was ist denn los?»
    «Meine Mutter», flüstere ich. «Meine Mutter.»

    Draußen vor meinem Fenster regt sich etwas. Christian. Ich spüre seine Sorgen um mich wie das Strahlen einer Wärmelampe. Er will mir sagen, dass er mich versteht. Auch er hat seine Mutter verloren. Ich bin nicht allein. Aber er hat beschlossen, mir all das nicht zu sagen, denn ihm ist klar, dass Worte in einem solchen Moment bedeutungslos sind. Er will einfach nur bei mir sitzen, stundenlang, wenn es das ist, was ich brauche. Er wird zuhören, wenn ich mich aussprechen will. Er wird mich in den Arm nehmen.
    Aber er ist nicht derjenige, von dem ich das erwartet habe. Als ich Tucker die schreckliche Neuigkeit erzählt habe, sagte er, wie sehr es ihm leidtue, wieder und wieder sagte er das, und ich konnte heraushören, dass er nicht wusste, was er sonst sagen, wie er sonst reagieren könnte. Also habe ich das Gespräch beendet und ihn nicht länger zappeln lassen.
    Ich stehe auf und gehe zum Fenster und stehe einen Moment da, betrachte Christian, vielmehr seinen Rücken, denn er hat sich von mir weggedreht und sitzt an seinem üblichen Platz auf dem Fenstersims. Er trägt die schwarze Fleece-Jacke. Dieser Anblick ist mir so vertraut. Er ist für mich da. Es ist, als wäre er immer schon für mich da gewesen, auf die eine oder andere Art.
    Eine Schneeflocke weht gegen die Fensterscheibe. Dann noch eine. Dann fallen große schwere Flocken schräg gegen das Haus.

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