Unearthly. Heiliges Feuer (German Edition)
auf
Letztes Jahr, als der Schnee schmolz, war es so herrlich, die Wintersachen wegzupacken, den frischen Erdgeruch einzuatmen und zu spüren, wie die erste Ahnung von Wärme ins Tal zurückkehrte. Doch in diesem Jahr erfüllt mich der Anblick von geschmolzenem Schnee, der vom Dach tropft, von winzigen Knospen, die aus den Blumenbeeten sprießen, von grünem Laub, das sich auf den Espen entfaltet, mit großer Furcht.
Es ist Frühling. Und in dieser Zeit, zwischen diesen Tagen und dem Sommer, wird meine Mutter uns verlassen.
In meinem Traum bin ich wieder auf dem Friedhof, an einem sonnigen Tag gehe ich zwischen den Gräbern den Hügel hinauf. Als ich die Leute um mich herum betrachte, fällt mir auf, dass sich die Gruppe der Anwesenden weitgehend aus den Mitgliedern der Kongregation zusammensetzt. Walter hält ein Taschentuch. Billy, die kein bisschen traurig, sondern eher fröhlich aussieht, lächelt mir zu, als unsere Blicke sich begegnen. Mr Phibbs ist da, im sportlichen Mantel aus grauem Tweed. Und dann sind da noch andere, die ich nicht kenne, Engelblutwesen aus anderen Teilen der Welt, Leute, mit denen meine Mutter im Lauf ihrer einhundertundzwanzig Jahre auf Erden gelebt und gearbeitet hat.
Es ist jetzt so offensichtlich, dass es hier um meine Mutter geht. Wieso habe ich das nicht von Anfang an erkannt?
Die Antwort ist einfach: weil Tucker nicht dabei ist. Niemals. In keiner einzigen meiner Visionen. Auch diesmal nicht. Mein wachsendes Gefühl, im Stich gelassen worden zu sein, versuche ich zu ignorieren, versuche zu verdrängen, dass es keinen denkbaren Grund gibt, der ihn von der Beerdigung meiner Mutter fernhalten könnte. Er stirbt nicht, was eine immense Erleichterung ist. Aber er ist nicht da.
Gäbe es in dieser Vision doch nur etwas, das mir sagt, was ich zu tun habe, oder eine – Verzeihung, wenn das jetzt wie ein schlechter Witz klingt – Aufgabe, die mir gestellt wird, irgendeinen Sinn in dem allen, einen Weg zu üben, zu planen und mich vorzubereiten, wie ich das für den Waldbrand getan hatte. Aber der Traum scheint mir nicht eine bestimmte Handlungsanweisung zu geben, sondern mir nur mitzuteilen, dass ich mich für den größten Verlust meines Lebens bereithalten soll. Wie ein Käfer unter Gottes riesigem Schuh komme ich mir vor, und das Einzige, was der Traum mir sagt, wohin er mich führt, ist, dass ich erscheine und darauf warte, zertreten zu werden.
Sollte ich je Gott begegnen, so wie meine Mutter es immer erzählt hat, wird er ganz schön viel zu erklären haben, mehr habe ich dazu nicht zu sagen. Denn das hier fühlt sich einfach mies an.
Im Traum gelangen wir zu einer Stelle nahe der Hügelspitze, an der alle stehen bleiben. Ich gehe wie unter Wasser, immer ein langsamer Schritt vor dem anderen. Als sich die Gruppe teilt und mich durchlässt, fühle ich mich in meinem Inneren plötzlich wie gelähmt. Ich halte den Atem an, als ich die letzten Schritte mache. Ich denke, dass ich das nicht sehen will.
Doch ich sehe, und nichts hätte mich vorbereiten können auf den Anblick des Sargs meiner Mutter, eines schweren, glänzenden mahagonifarbenen Sargs, bedeckt von einer Unmenge weißer Rosen.
In diesem Moment denke ich etwas total Verrücktes. Ich weiß nicht, ob es meinem Kopf entspringt oder dem der zukünftigen Clara, aber ich denke: Ob sich Mama den Sarg wohl selbst ausgesucht hat? Er passt einfach zu gut zu ihr. Ich stelle mir vor, wie sie zum Sarg-Einkaufen in die Stadt gefahren und durch einen Ausstellungsraum gegangen ist, um verschiedene Särge zu begutachten, so wie sie es mit Antiquitäten gemacht hat. Wie sie die Särge gründlich gemustert und schließlich den Verkäufer angesehen hat, dabei auf diesen Sarg deutete und sagte: «Ich nehme den da.»
Den da.
Meine Vision verschwimmt. Ich schwanke auf den Beinen. Christian lässt meine Hand los. Er tritt näher an mich heran, legt mir den Arm um die Hüfte, stützt mich. Dann nimmt er mit der anderen Hand, mit der linken diesmal, wieder meine Hand. Er drückt sie kurz.
Musst du dich setzen? , fragte er sanft in meinem Kopf.
Nein , antworte ich. Jetzt sehe ich wieder klar. Ich schaue zu Jeffrey hinüber, der so intensiv auf den Sarg starrt, dass ich glaube, der müsste jeden Moment in Flammen aufgehen. Jeffreys Arme hängen herunter, die Hände hat er zu Fäusten geballt. Zuerst will ich lieber weiß Gott wo hinsehen, nur nicht auf den Sarg, aber als ich dann hinschaue und den Blick auch in die Runde schweifen lasse, sehe
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