Unearthly. Heiliges Feuer (German Edition)
Fernbeziehung versuchen will?»
Sie schüttelt den Kopf. «Er geht nach Boston oder New York oder sonst eine von den piekfeinen Hochschulen, für die er sich beworben hat. Ich gehe nach Washington, hoffe ich jedenfalls. Das wird nicht funktionieren. Aber so ist das nun mal, wenn man erwachsen ist. Man muss an die Zukunft denken.»
Ich würde sie gern daran erinnern, dass wir noch nicht erwachsen sind, dass wir erst siebzehn sind. Wir sollten noch nicht an die Zukunft denken müssen. Abgesehen davon ist meine Zukunft, die ich fast jede Nacht vor mir sehe, wenn ich die Augen schließe, ein Friedhof. Ein unglaublicher, schwerer Verlust. Was danach passiert, mein Leben nach diesem Tag, ist wie ein Videoband, das jemand gelöscht hat: grau flimmerndes Rauschen. Ja, ich werde wahrscheinlich auf die Uni gehen. Ich schließe womöglich neue Freundschaften, gehe auf Partys und finde das Leben am Ende vermutlich ganz okay. Aber im Moment bin ich gefangen in einem einzigen sonnigen Tag auf einem Hügel.
«Alles in Ordnung mit dir?», fragt Wendy. «Tut mir leid. Ich hab kein Recht, dir Vorträge zu halten. Ich weiß, du machst schwere Zeiten durch, wegen deiner Mutter und so.»
«Alles in Ordnung», versuche ich, sie zu beruhigen, die unguten Gefühle abzuschütteln und das Mitleid zu ignorieren, das ich bei ihr fühle.
«He, ich weiß was», sage ich, um das Thema zu wechseln. «Wir gehen zusammen zum Postamt, ja?»
«Es ist anders, als ich es mir vorgestellt habe», sagt Wendy, als wir durchs Stadtzentrum von Jackson gehen.
Ich halte ihr die Tür auf, als wir das Postamt betreten. «Was ist anders?»
«Du und Tucker. Ich dachte, ihr wärt wie geschaffen füreinander, würdet euch perfekt ergänzen, du das Yin und er das Yang, so was in der Art, und ich habe gehofft, er würde einfach nur glücklich sein …» Einen Moment lang nagt sie an ihrer Unterlippe. «Ihr seid so beschäftigt miteinander, so konzentriert auf euch, dass ihr nichts anderes mehr bemerkt. Wie, äh, mich zum Beispiel.»
«Tut mir leid, Wendy», sage ich. «Du bist doch immer noch meine allerbeste Freundin, das weißt du doch, oder?»
«Ja, vielleicht», sagt sie. «Aber gegen ihn komme ich nicht an. Und ich glaube, bei mir ist es genauso.»
Sie hat recht. Im letzten Jahr haben wir uns viel seltener gesehen, teils weil ich in meiner Freizeit am liebsten bei Tucker oder im Engelclub bin, teils weil Wendy viel mit Jason zusammen ist. Was völlig normal ist, wie sie sagt; wenn ein Mädchen einen Freund hat, verbringt sie nicht mehr so viel Zeit mit ihren Freundinnen. Ich fand das immer dumm, aber trotzdem haben wir es dann genauso gemacht, als wir uns verliebt haben. Dazu kommt, dass Wendy über vieles nicht Bescheid weiß, nicht Bescheid wissen darf, und ich ihr lieber aus dem Weg gehe, als sie ständig anzulügen. Letztes Jahr konnte ich noch, jedenfalls meistens, so tun, als wäre ich ganz normal. Jetzt geht das nicht mehr.
Wir gehen zu unseren jeweiligen Postfächern. In dem meiner Familie ist der übliche Schrott, Rechnungen, Reklame von Supermärkten, aber dann, ganz unten, ein dicker Umschlag. Ich schlucke heftig. Stanford University.
Wendy kommt zu mir, ihr Gesicht ist ganz blass unter der Bräune, die blauen Augen hat sie weit aufgerissen. Sie hält einen Umschlag in der Hand. Washington State University. Das ist es. Ihre Wunsch-Uni. Ihre Zukunft. Ihr Leben. Sie versucht zu lächeln, aber es wird eher eine Grimasse. Ihr Blick fällt auf den Umschlag in meiner Hand, und sie hält den Atem an.
«Sollen wir … warten, bis wir zu Hause sind?», fragt sie, ihre Stimme eher ein Krächzen.
«Nein. Auf keinen Fall. Wir gucken nach. Jetzt. Wir wollen es hinter uns bringen.»
Das lässt sie sich nicht zweimal sagen. Sofort reißt sie den Umschlag auf, wirft einen einzigen Blick auf das Anschreiben, dann hält sie sich die Hand vor den Mund. «Oh», sagt sie.
«Was? Was ? Du bist aufgenommen, ja?»
In ihren Augen glitzern Tränen. «Es gibt doch einen Gott!», sagt sie. «Sie nehmen mich!»
Wir umarmen uns und springen herum und kreischen ein paar Minuten lang wie kleine Mädchen, dann beruhigen wir uns wieder.
«Jetzt du», sagt sie.
Vorsichtig mache ich den Umschlag auf. Ziehe die Unterlagen heraus. Eine Broschüre über Unterkünfte auf dem Uni-Gelände fällt heraus, flattert auf den Boden. Wendy und ich starren darauf.
«Clara», meint Wendy atemlos. «Du bist auch aufgenommen.»
Ich lese die erste Zeile auf der ersten Seite –
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