Unearthly. Heiliges Feuer (German Edition)
an. Bis zu diesem Moment hatte ich keinen Gedanken daran verschwendet, was wir den Leuten sagen würden, wie wir Mamas «Krankheit», wie sie es gern nennt, erklären sollten. Krebs wäre in der Tat eine Erklärung. Die Leute merken allmählich etwas, denke ich. Zum Beispiel, dass sie bei Jeffreys Ringkämpfen nicht mehr aufspringt, um ihn anzufeuern. Oder wie still und blass sie geworden ist. Dass ihr Haar vorn silbergrau geworden ist und sie nun ständig Hüte trägt, um es zu verstecken. Dass sie inzwischen nicht mehr schlank, sondern einfach nur noch dünn ist.
Es scheint so plötzlich gekommen zu sein, aber dann denke ich, dass ich vorher einfach nicht darauf geachtet habe. Ich war so in Anspruch genommen von meinem eigenen Leben, meinem Traum, der Vorstellung, dass es Tucker ist, der sterben muss. Die ganze Zeit ist sie schwächer und schwächer geworden, und ich habe nichts bemerkt.
Eine tolle Tochter bin ich.
«Was für eine Art Krebs?», fragt Billy nachdenklich, als ob es ein völlig normales Thema wäre.
«Irgendwas Unheilbares natürlich», antwortet Mama.
«Also bitte! Könntet ihr bitte aufhören, so darüber zu reden?» Ich ertrage das nicht. «Du hast nicht Krebs, Mama. Wieso müssen wir den Leuten überhaupt irgendwas sagen? Ich will den Menschen nicht noch eine Lüge auftischen.»
Billy und Mama wechseln einen belustigten Blick, den ich nicht verstehe.
«Sie ist ehrlich», bemerkt Billy.
«Übertrieben ehrlich», erwidert Mama. «Das hat sie von ihrem Vater.»
Billy schnaubt verächtlich. «Ach, komm schon, Mags, sie ist haargenau wie du, als du so alt warst.»
Mama verdreht die Augen. Dann wendet sie sich an mich. «Eine logische Erklärung wird allen helfen. So stellen die Leute wenigstens nicht zu viele Fragen. Mein Tod soll schließlich nicht irgendwie mysteriös wirken; das wollen wir ja nun wirklich nicht.»
Ich finde es verrückt, dass sie derart ruhig «mein Tod» sagen kann, so wie «mein Auto» oder «mein Vorschlag fürs Abendessen».
«Na schön», räume ich ein. «Sagt den Leuten, was immer ihr wollt. Aber ich will damit nichts zu tun haben. Ich werde nicht von Krebs reden oder sonstwie lügen. Das ist allein eure Sache.»
Billy macht den Mund auf, will etwas Oberschlaues sagen oder mich vielleicht zusammenstauchen, weil ich so unsensibel bin, aber Mama hebt die Hand.
«Es ist allein meine Sache», meint sie. «Ich werde mich selbst darum kümmern.»
Es ist also Krebs. Aber in einem Punkt hat Mama sich geirrt: Es ist sehr wohl meine Sache. Vielleicht hätte es ja funktioniert, wäre da nicht die Sache mit meinem Einfühlungsvermögen. Ich kann nicht anders, ich muss die Gefühle der anderen zur Kenntnis nehmen. Die Neuigkeit, dass meine Mutter an Krebs erkrankt ist, ist an der Jackson Hole Highschool eingeschlagen wie eine Bombe. Es hat nicht mal einen Tag gedauert, bis alle, und ich meine wortwörtlich alle, Bescheid wussten. Erst haben sie weggeguckt, dann haben mir die netteren Mädchen mitleidige Blicke zugeworfen. Und schließlich ging das Getuschel los. Der Text ist immer der gleiche. Es fängt an mit: «Habt ihr schon von Clara Gardners Mutter gehört?», und es endet mit: «Das ist ja so traurig.»
Ich halte den Kopf gesenkt und konzentriere mich auf den Unterricht, versuche, mich normal zu verhalten, aber schon am zweiten Tag werde ich von überwältigenden Wellen des Mitgefühls überrollt, und das von Leuten, die sich im letzten Jahr nicht mal die Mühe gemacht haben, sich meinen Namen zu merken. Sogar meine Lehrer sind ganz pathetisch, außer Mr Phibbs, der mich einfach nur seine Enttäuschung über die ziemlich vergeigte Hausarbeit über Miltons Paradise Lost spüren lässt; er gibt mir eine Fünf und verlangt, dass ich sie noch mal schreibe. Ich komme mir vor wie ein winziges Boot auf einem riesigen Ozean des Mitleids.
Folgende Szene zum Beispiel: Ich bin auf der Toilette im Mädchenklo, denke an nichts Böses, und da kommt eine Horde Mädchen aus dem ersten Jahr rein. Sie schnattern wie Gänse, sogar beim Pipimachen, und dann sagt eine: «Habt ihr schon von Jeffrey Gardners Mutter gehört? Sie hat Lungenkrebs.»
«Es heißt, es ist ein Gehirntumor. Stufe vier, oder so. Sie hat nur noch ungefähr drei Monate zu leben.»
«Das ist ja so traurig. Ich weiß nicht, was ich machen würde, wenn meine Mutter stirbt.»
«Was wird Jeffrey machen?», fragt eine. «Ich meine, wenn sie stirbt. Ihr Vater wohnt doch nicht bei ihnen, oder?»
Erstaunlich, denke
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